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Das Verschwiegene: Roman (German Edition)

Das Verschwiegene: Roman (German Edition)

Titel: Das Verschwiegene: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linn Ullmann
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kleine Schwester.
    »Ich finde, dass es wie ein Krebs aussieht«, sagte sie. »Und ich glaube, Oma findet das auch.«
    Alle sahen Jenny an.
    »Hmm«, brummte Jenny und öffnete die Augen.
    Sie zeigte auf etwas.
    Sechs, nein, sieben Enten schwammen in dem zugewachsenen Teich weiter unten im Garten, darunter vier Entenküken.
    Irma sagte, sie hätte sie schon öfter dort gesehen und angefangen, sie zu füttern.
    »Hmm«, brummte Jenny wieder.
    Siri sah ihre Mutter an und versuchte, ihren Blick einzufangen. Jenny redete nicht mehr viel. Aber wenn sie etwas sagte, presste sie die Worte aus dem Mund, als wären es verschiedene Gegenstände mit ihrer jeweiligen Größe, Form und Struktur: weich, flauschig, glatt, kantig, spitz. Oft geriet sie auf Irrwege, die im Nichts endeten, nur Atem und Stille. Ein Geschwür in der Mundhöhle hinderte sie an einer deutlichen Aussprache. Manchmal war sie überhaupt nicht zu verstehen. Aber alle bemühten sich, und soweit Jon sich erinnern konnte (er hatte es später am Tag aufgeschrieben), saß sie in ihrem Rollstuhl unter dem Baum und sagte: »Ich frage mich, wer in diesem Haus wohnt und wer den Garten angelegt hat.«
    Und dann sagte sie: »Ich habe ein paar schöne weiße Turnschuhe im Schrank, Größe 38. Kann einer von euch so nett sein, sie mir zu holen?«
    Und am Ende sagte sie, so freundlich sie konnte: »Habt ganz herzlichen Dank für die schöne Feier, aber jetzt muss ich leider gehen.«

S iri saß allein in der Küche von Mailund und hatte vor, Jon auf seinem Handy anzurufen. Sie stellte das Babyfon ab. Sie fand es verwirrend, sich zugleich auf das Babyfon und das Handy zu konzentrieren. Zurzeit plapperten und faselten und fabulierten Jenny und Jon gleich viel.
    Siri stand auf und fand im Kühlschrank eine halbe Flasche mit billigem Rotwein, wovon sie sich ein großes Glas einschenkte. Sie wollte Irma darauf ansprechen, dass Jenny, die nachweislich keinen Alkohol vertrug , jeden Tag große Mengen Rotwein zum Omelett bekam. Jenny war nicht nur den größten Teil ihres Erwachsenenlebens über Alkoholikerin gewesen (abgesehen von den zwanzig Jahren, in denen sie trocken war), es musste auch lebensgefährlich sein, mitten am Tag Rotwein und starke Medikamente miteinander zu vermischen. Kein Wunder, dass Jenny verwirrt war. Kein Wunder, dass sie fabulierte. Und wenn Siri schon die Sache mit dem Rotwein ansprach, konnte sie vielleicht auch die Omeletts erwähnen. Jeden Tag Omelett. Ohne Gemüse. Ohne Schinken. Ohne irgendwas. Nur mit Ketchup. Ja, und jede Menge Rotwein.
    Siri hatte früher schon versucht, die Sache mit dem Omelett anzusprechen, aber Irma hatte nicht mit sich reden lassen, sie hatte sich mit ihrem hünenhaften Körper vor Siri aufgebaut und gesagt: »Der Arzt sagt, dass Jenny Proteine braucht. Eier stecken voller Proteine. Ich befolge nur die Anweisungen des Arztes.« Und dann fügte sie hinzu: »Und ich denke, der Arzt hat von solchen Sachen mehr Ahnung als du, oder?«
    »Ja, bestimmt«, sagte Siri, »aber jeden Tag Omelett und Rotwein ist mit der Zeit doch arg einseitig …«
    Irma lauschte mit verschränkten Armen, und Siri unternahm einen weiteren Versuch: »Und mit Essen und Ernährung kenne ich mich schon ein bisschen aus, denke ich. Ich könnte dir gute Rezepte für Speisen mit vielen Proteinen geben …«
    Irma holte tief Luft.
    »Ich verstehe, dass es dir schwerfällt, das zu akzeptieren«, sagte sie. »Du bist die Tochter. Aber ich wohne seit über zwanzig Jahren mit ihr zusammen und kenne sie. Sie vertraut mir. Wir sind …«
    »Was seid ihr«, flüsterte Siri. »Was seid ihr eigentlich?«
    Irma hob die Hand, drehte sich um und schüttelte den Kopf, um zu signalisieren, dass das Gespräch zu Ende war.
    Heute war die Stimmung eine andere. Irma hatte eingewilligt, dass Siri kam und einige Zeit blieb. Irma war gut gelaunt gewesen, fast tirilierend, und hatte sogar ein kleines Stück von Siris Trüffeltorte mit Vanilleboden probiert. Sie hätte zu tun, sagte sie. Zuerst wollte sie zum Laden und Eier und Milch besorgen, dann wollte sie in die Apotheke und Jennys Medikamente holen, und schließlich wollte sie ein rotgepunktetes Kleid kaufen, das herabgesetzt war. Siri lauschte ungläubig, das rotgepunktete Kleid machte sie stutzig. Beim besten Willen konnte sie sich Irma weder in einem rotgepunkteten noch in einem anderen Kleid vorstellen. Irma hatte fast immer Jeans und karierte Blusen an, ihr Engelshaar trug sie offen, sie war mindestens zwei Meter groß und

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