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Das Verschwiegene: Roman (German Edition)

Das Verschwiegene: Roman (German Edition)

Titel: Das Verschwiegene: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linn Ullmann
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dem Hund, dem Meerschweinchen und dem Eichhörnchen nicht behaupten konnte), aber sie ertrug es nicht, dass Siri zu jeder passenden und unpassenden Gelegenheit hier ankam, Siri müsse begreifen, dass sie nicht erwünscht sei.
    Es war Jennys Wunsch, ihr Leben zu Hause zu beenden. Sie wollte nicht ins Krankenhaus, das hatte sie schon vor langer Zeit gesagt, laut und deutlich im Beisein von Zeugen und im Vollbesitz ihrer geistigen Kräfte.
    »Und was für ein Glück, dass ich Irma habe«, hatte Jenny gesagt. »Wenn ich nicht mehr selber für mich sorgen kann, weiß ich, dass Irma für mich da ist. Sie weiß, was für mich am besten ist. Wir haben darüber gesprochen.«
    Ein Arzt, ein alter Bekannter von Jenny, war auf Hausbesuch gewesen. Irma hatte ihn angerufen. Es war ausgeschlossen, dass Jenny ins Krankenhaus kam. Der Arzt untersuchte sie und konnte berichten, dass Jennys Verwirrung nichts mit Alzheimer zu tun hatte. In seinen Augen waren weitere Untersuchungen nicht nötig, ihr Zustand war aller Wahrscheinlichkeit nach die Folge vieler kleiner Schlaganfälle. Eine vorübergehende Unterbrechung der Blutzufuhr zum Gehirn. Auch transitorische ischämische Attacke genannt.
    Siri beugte sich über ihre Mutter und sagte: »Ich soll dich von Alma grüßen!«
    Jenny rührte ein wenig in ihrem Teller. Sie hatte das Omelett fast aufgegessen.
    »Wer ist Alma«?, fragte sie.
    »Du hast zwei Enkelkinder«, sagte Siri. »Alma und Liv. Und ich soll dich von Alma grüßen.«
    Jenny nickte.
    »Und Liv hat gesagt, dass sie dir ein Bild malen will.«
    Jenny nickte und öffnete den Mund.
    »Willst du, dass ich Alma und Liv von dir grüße?«
    Jenny hob den Teller hoch.
    »Leer!«, sagte sie. Dann blickte sie auf, sah Siri an und senkte die Stimme. »Ich habe alles aufgegessen.«

S iri lief über die Wiese und durch den Wald zum See. Sie setzte sich ans Ufer. Sie versuchte zu beten, war aber abgelenkt, dachte an andere Dinge, dachte, ich bete ganz falsch .
    Alles, was ihr von Syver geblieben war, waren grüner Wald und weißer Schnee und eine schmutziggraue selbstgestrickte Mütze, die ihm etwas zu groß gewesen und in die Augen gerutscht war. Aber sie konnte sein Gesicht nicht sehen.
    Sie war sechs, und er war vier. Sie lief hinter ihm her, versuchte mit ihm Schritt zu halten, und rief, Syver, Syver, du bleibst jetzt hier bei mir , und er hüpfte vor ihr zwischen den Baumstämmen hin und her, mal war er da, mal war er verschwunden. Große graue Mütze, blauer Norwegerpullover, der letztes Jahr noch ihr gehört hatte, braune Hose. Es war noch früh im Jahr, im Herbst sollte Siri in die Schule kommen, sie erinnert sich nicht an das Gurgeln und Gluckern, das sicher zu hören gewesen war. Sie erinnert sich lediglich an die Stille, als hätte jemand den Ton abgestellt, nur ihre Stimmen waren noch da. Syver! Geh jetzt neben mir! Ich habe keine Lust, hinter dir herzulaufen! Sie trugen dicke Pullover, keine Daunenjacken. Es war der erste Tag mit Pullovern anstelle von Daunenjacken, und der Körper fühlte sich viel leichter an.
    Jenny saß am Küchentisch und schrieb Bo Anders Wallin, dem Vater ihrer Kinder, einen Brief, und in dem Brief verfluchte sie ihn dafür, dass er nach Gotland gefahren war und sie mit zwei kleinen Kindern in Mailund gefangen war. Was bin ich denn? Wozu hat das ewige Kinderkriegen geführt? Und in einem anderen Brief: Syver hat die Nacht geweint, wollte kein Wasser, kein Lied, nicht auf meinen Arm, nicht draußen in der Nacht dem Schneetreiben zusehen, schließlich habe ich ihn zu mir ins Bett mitgenommen (in dem du nicht bist), und dort hat er sich an mich geschmiegt und ist eingeschlafen.
    Es war ein großer Tag, der Tag, an dem Jenny ihnen erlaubte, die Winterjacke wegzulassen, der Tag, an dem sie nur im Wollpullover und mit dicker Hose nach draußen gehen durften. Siris Pullover war zu groß, er war rot und weiß und kratzte leicht am Hals, und er hatte einem hübschen dreizehn Jahre alten Mädchen gehört, dessen Mutter mit Jenny befreundet war. Der Geruch des Mädchens hing noch in dem Pullover, obwohl er von Hand in Seifenlauge gewaschen worden war. Etwas Parfüm, etwas Schweiß und etwas Milch. Siri roch noch nicht nach Schweiß, dafür war sie noch zu klein, der Pullover kratzte leicht, aber nicht so viel wie der letzte, der blaue Norwegerpullover, den Syver bekommen hatte. Sie trug einen Schal, eine Mütze, eine Winterhose und dicke, halbhohe Lederschuhe, sie lief durch den Wald und rief nach Syver, der immer

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