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Das Verschwiegene: Roman (German Edition)

Das Verschwiegene: Roman (German Edition)

Titel: Das Verschwiegene: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linn Ullmann
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haute nicht mehr ab wie früher, man konnte ihn frei laufen lassen.
    Mit dem Spaziergang zum Metzger hatte es angefangen, doch dann hatte Jon herausgefunden, dass es ihm in Torshov gefiel, er kannte niemanden, niemand kannte ihn, und Schritt für Schritt entdeckte er, dass er sich auf diesen frühen Morgenspaziergängen zulegte, was Strindberg einmal als unpersönlichen Bekanntenkreis beschrieben hatte. Gemeint waren Menschen, denen er jeden Tag begegnete, mit denen er aber kein Wort wechselte. Man erkannte sich, man nickte sich zu, das war alles. Ein älterer Mann mit einem großen verspielten Golden Retriever. Eine junge hübsche Mutter auf dem Weg zum Kindergarten mit einer Vier- und einer Fünfjährigen. Die Vierjährige legte sich fast immer an derselben Stelle auf die Straße und heulte, weil sie nicht weiterlaufen wollte. Sie wollte getragen werden. Sie lag dort auf der Straße, gut eingepackt in einen knallrosa Schneeanzug, knallrosa Stiefel und eine knallrosa Mütze mit Kaninchenohren. Die Mutter und die ein Jahr ältere Schwester, die still und ernst wirkte, warteten geduldig, bis sie keine Lust mehr hatte, auf der Straße zu liegen und zu schreien. Widerwillig stand das kleine Mädchen auf und lief zu den beiden anderen.
    Jon erkannte ein Autorenehepaar, das zusammen frühstücken ging. Jeden Morgen frühstückte das Paar in derselben Kaffeebar. Manchmal hielten sie sich bei den Händen, und er fragte sich, ob sie es gut miteinander und mit dem Leben hatten. Ja, er erkannte sie, und sie erkannten ihn. Aber sie respektierten ihre gegenseitige Zurückhaltung, und keinem käme es in den Sinn, stehen zu bleiben und hallo zu sagen oder wie geht’s oder, noch schlimmer, das ist ja lustig, dass ich dich/euch jeden Tag hier sehe, wohnst du/wohnt ihr hier in der Nähe? Das würde alles kaputtmachen. Das Ehepaar würde sich einen anderen Ort suchen für seinen morgendlichen Kaffee, und Jon würde sich einen anderen Weg suchen für seinen Spaziergang. Ein kurzes Nicken. Ein freundliches (aber kein einladendes) Lächeln. Der unpersönliche Bekanntenkreis, der Jons bevorzugter (und einziger) Bekanntenkreis geworden war, hatte seine ungeschriebenen Regeln. Und die wichtigste Regel war, dass man nicht versuchte, sich mit Blicken oder Worten so zu verhalten, dass es als Annäherungsversuch gedeutet werden könnte, sondern dass man sich innerhalb der Grenzen des absolut Unpersönlichen bewegte. Im Großen und Ganzen klappte es gut, obwohl manche Hundebesitzer bisweilen die Grenze überschritten und fragten: »Ist das ein Männchen oder ein Weibchen, was Sie da haben?«
    Und Jon bleibt nicht nur die Antwort schuldig, er ist auch unsicher, welches die richtige Antwort ist. Natürlich weiß er das Geschlecht seines Hundes. Aber er ist sich nicht sicher, ob es gut ist, dass Leopold ein Männchen ist (der andere Hund ist nämlich jedes Mal ganz erregt, wenn er einer Hündin begegnet, so dass der Hundebesitzer möglicherweise eine peinliche Situation zu überspielen wünscht), oder schlecht (der andere Hund, egal welchen Geschlechts, fühlt sich von anderen Männchen bedroht – als wären die anderen Männchen daran schuld). Es gibt, dachte Jon, viele Situationen, in denen man es vorziehen würde, wenn Hunde sich nicht dauernd gegenseitig beschnupperten, wie Hunde es nun mal tun. Entweder will Hund A Hund B gegen Hund Bs Willen bespringen, oder Hund C entwickelt sofort eine unzweideutige Antipathie gegenüber Hund D, und diese Antipathie zeigt sich darin, dass Hund C Hund D ins Gesicht springt; oder Hund A, B, C und D sind so erregt und/oder verwirrt darüber, sich zu sehen, dass sie sich heillos ineinander verwickeln und es für die Besitzer eine Heidenarbeit ist, das Knäuel wieder zu lösen.
    Am liebsten vermied Jon jeglichen Smalltalk, der eine natürliche Begleiterscheinung des Hundehaltens ist, darum schlug er Leopold vor, sich seinerseits an eine Hundeversion des unpersönlichen Bekanntenkreises zu halten. Das hieß: kein Schnuppern. Kein Schnüffeln. Höchstens ein freundliches Schwanzwedeln auf Abstand – bevor man weiterging.
    Jon dachte nur Gutes über all die neuen Menschen, denen er jeden Tag auf dem Weg zum Metzger und zum Park begegnete, und es war eine große Erleichterung für ihn, dass er seine Zurückhaltung nie aufs Spiel gesetzt hatte, indem er beispielsweise versucht hatte, die junge hübsche Mutter mit den zwei Kindern zu sich heranzustarren. Dass er das nicht wollte. Dass er es nicht tun musste. Dass

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