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Das Verschwiegene: Roman (German Edition)

Das Verschwiegene: Roman (German Edition)

Titel: Das Verschwiegene: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linn Ullmann
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hätte sie Jon angerufen und geschrien, warum hast du sie fotografiert , aber es würde nichts nützen. Es war alles gelogen. Sie wollte nicht nach Hause, aber sie wollte auch nicht umkehren, und es kam ihr vor, als nähme der lange Tunnel kurz vor der Stadtgrenze kein Ende.

S ie hatte zunächst geklingelt. Als Irma nicht öffnete, schloss sie die Tür auf und rief hallo.
    »Irma, bist du da?«
    Sie ging wieder nach draußen, um das Haus herum, wo Irma einen eigenen Eingang in die Kellerwohnung hatte.
    »Irma, bist du da?«
    Ihr Handy piepte. Sie zog es aus der Tasche. Unbekannte Nummer. Sie drückte die Gesprächstaste und hielt das Handy ans Ohr.
    »Hallo?«
    Nichts.
    »Hallo? Wer ist dran?«
    Der andere legte auf.
    Siri war seit einer Woche nicht in Mailund gewesen – und heute hatte sie vorgehabt, sich kurz mit Jenny zusammenzusetzen. Nicht lange. Siri wollte am Abend noch zurück nach Oslo. Daher ging sie wieder um das Haus zurück und setzte sich in die Küche. Sie starrte auf das Babyfon. Jenny lag in ihrem Zimmer und rief nach Bo Anders Wallin. Wobei rufen vielleicht nicht das richtige Wort war. Jennys Stimme war ganz kraftlos. Das Geschwür im Mund in Kombination mit der Verwirrung hielt sie mehr oder weniger davon ab, sich verständlich auszudrücken. Sie sprach ihre eigene Sprache.
    »Bo! Kannst du nicht kommen!«
    Wenn man die Sprache nicht konnte, klang es so:
    »O! Ann u i omme!«
    Siri hatte irgendwo gehört: Wenn die Sterbenden nach den Toten riefen, als wären sie in ihrer Nähe, war es nicht mehr lange hin, bis die Sterbenden selbst tot waren.
    »Syver!«
    Oder:
    »Yyyve!«
    Sie ging die Treppe hinauf, klopfte vorsichtig an Jennys Schlafzimmertür und drehte sich mehrmals um, weil sie sehen wollte, ob Irma in der Nähe war. Siri öffnete einen Spaltbreit die Tür und sah durch den Schlitz. Ihre Mutter lag im Bett, ein schmaler weißgrauer Streifen aus Fleisch, Herz und Geräuschen.
    »Bist du’s, Syver?«, fragte sie.
    »Nein, Mama, ich bin’s, Siri.«
    »Wer ist Siri?«
    Siri ging zu ihr und setzte sich auf die Bettkante. Sie strich der Mutter über die Wange und sagte: »Manchmal habe ich das Gefühl, dass du nur so tust, als ob, dass du verrückter spielst, als du bist, und dass du sehr genau weißt, dass du du bist und ich ich bin und dass Syver tot ist.«
    Jenny lachte, dann sagte sie: »Vielleicht kannst du mir meine Schuhe bringen. Sie stehen im Schrank. Ich möchte jetzt gern gehen.«
    »Wo willst du denn hin?«
    »Zum Schloss, habe ich gesagt.«
    »Genau das meine ich, Mama, wenn du solche Sachen sagst, denke ich, dass du nur spielst. Wie Hamlet.«
    Ihre Mutter kniff die Augen zu, dann machte sie das linke wieder auf und sah Siri an.
    Siri legte eine Hand auf die Brust der Mutter, die schlaff auf dem Brustkorb lag. Sie hielt das Ohr an den Brustkorb und hörte das Herz schlagen.
    »Ich erkenne dieses Haus«, flüsterte Jenny, »ich erkenne diese Zimmer, aber ich weiß nicht, wer hier wohnt. Weißt du, wer hier wohnt?«
    »Hier wohnst du«, sagte Siri.
    »Zusammen mit Syver«, antwortete Jenny.
    »Nein«, sagte Siri, »Syver ist tot. Er ist vor sechsunddreißig Jahren gestorben. Aber ich habe oft im Sommer mit Jon und Alma und Liv hier gewohnt.«
    »Und Alma? Wo ist sie?«
    »Alma ist daheim in Oslo. Ich bin froh, dass du dich an Alma erinnerst. Letztes Mal konntest du dich nicht an sie erinnern.«
    »Alma, ja«, nickte Jenny. Vielleicht sagte sie aber auch etwas anderes. Siri war sich nicht sicher. Es klang ungefähr so: »A mm a.«
    Siri sagte: »Willst du, dass ich Alma etwas ausrichte?«
    Jenny schüttelte den Kopf.
    »Alma vermisst dich. Ich kann sie gern einmal mitbringen. Sie hat es im Moment nicht leicht …«
    »Das Auto hat sie zerbrochen«, nickte Jenny.
    »Was?«, sagte Siri.
    »Das Auto hat sie zerbrochen«, wiederholte sie.
    »Wie meinst du das«, fragte Siri.
    »Das Auto hat sie zerbrochen«, sagte Jenny und sah Siri an. »Alma und ich sind mit dem Auto gefahren, und das hat das Mädchen auf der Straße endgültig zerbrochen.«
    »Welches Mädchen«, fragte Siri.
    »Gib mir Wasser«, sagte Jenny.
    »Wovon redest du«, fragte Siri, »von wem?«
    Jenny schüttelte den Kopf und versank in ihre eigenen Gedanken, dann flüsterte sie: »Wer wohnt eigentlich in diesem Haus?«
    Siri legte ihrer Mutter die Hände auf die Schultern, als wollte sie sie umarmen und flüstern, du wohnst hier, du wohnst in diesem Haus , doch stattdessen packte sie sie ganz fest und schüttelte sie,

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