Das Verschwiegene: Roman (German Edition)
möglichst geräuschlos ein Glas einzuschenken (Whisky? Wein?).
»Jon, was ist los?«
»Tja, es ist so, dass ich seit Monaten von Amanda Browne SMS geschickt bekomme.«
»Was? Von Milles Mutter?«
»Ja.«
»Hast du Milles Mutter gevögelt?«
»Nein, Siri. Habe ich nicht.«
Jon seufzte.
»Ich habe gesagt, dass sie mir SMS schickt. Sie schreibt und ruft an. Manchmal lässt sie es klingeln und legt wieder auf. Manchmal ruft sie an und sagt kein Wort.«
»Wir hätten diesen Brief schreiben sollen«, sagte Siri.
»Die Sache ist die, dass sie wohl glaubt, dass du ebenfalls beteiligt bist.«
»Beteiligt bei was?«
»Ich weiß es nicht! Dass du beteiligt bist . Woher soll ich wissen, was das heißt, verdammt? Sie ist verrückt. Sie meint wohl, dass wir irgendwie schuld sind an dem, was passiert ist.«
» Ich weiß nicht, was passiert ist!«, sagte Siri. »Weißt du , was passiert ist?«
»Nein. Du weißt doch, dass ich es nicht weiß.« Er zögerte. »Ganz sicher hat dieser Junge ihr was angetan, dieser KB . Aber solange sie nicht gefunden wird …«
»Warst du damals in der Nacht in ihrem Zimmer?«, unterbrach sie ihn.
»Nein, das habe ich doch gesagt. Ich war nicht in ihrem Zimmer! Verdammt … beschuldigst du jetzt mich? Ist das alles, was dir einfällt? Wollen wir ausnahmsweise einmal versuchen, zusammenzuhalten? Das hier gemeinsam zu lösen?«
»Okay«, sagte Siri. »Hast du mit Mille geschlafen?«
Jon schrie. Er schrie so laut, dass er anfing zu weinen.
» ICH HABE NICHT MIT MILLE GESCHLAFEN, OKAY? ICH WAR NICHT IN IHREM ZIMMER, OKAY? «
»Okay.«
Siri hielt die Luft an. Sie konnte nicht hier sitzen und weinen. Wenn Irma jetzt nach Hause käme. Sie schaltete das Babyfon ein. In der ersten Etage war alles ruhig. Jenny schlief. Siri betrachtete die leere Weinflasche.
»Okay. In ein paar Stunden fahre ich hier los. Gibt es etwas, was du mir über Mille nicht erzählt hast? Wenn wir zwei zusammenhalten sollen, musst du mir alles erzählen.«
»Eine Sache«, sagte Jon.
Siri lachte laut.
»Hab ich’s mir doch gedacht.«
»Nichts Wichtiges«, sagte Jon. »Aber ich finde, du solltest es wissen. Amanda hat es nicht erwähnt, aber es kann ja sein, dass es noch auf den Tisch kommt. Ich glaube es nicht. Es ist eigentlich völlig unwichtig.«
»Okay?«
»Erinnerst du dich an das Foto, das die Zeitungen abgedruckt haben, als sie über den Fall berichtet haben? Das Foto, auf dem sie so ganz anders aussah. Weißt du noch, dass du darüber gesprochen hast? Blaues Kleid. Roter Mund. Zopf.«
Er schwieg. Sie hörte, dass er trank, sagte aber nichts. Er fuhr fort.
»Wir haben darüber gesprochen, du und ich. Über das Bild. Es ist ziemlich unscharf, trotzdem ist Mille gut zu erkennen, ich weiß noch, wie du gesagt hast, dass sie auf dem Bild viel besser aussieht als in Wirklichkeit. Nicht ganz so mondhaft, hast du gesagt. Man kann es nicht sehen, nicht wirklich, wo das Bild entstanden ist. Es könnte überall aufgenommen worden sein, von wem auch immer. Es ist ein ganz normales Handyfoto von einem ganz normalen Mädchen. Kein Hintergrund. Keine Umgebung. Nur links unten in der Ecke sieht man etwas Schwarzes. Etwas Buschiges. Weißt du noch?«
»Nein … das heißt, doch. Vielleicht«, sagte Siri leise und dachte an den schwarzen Fleck.
»Es fällt einem nicht auf«, sagte Jon. »Man sieht vor allem das Mädchen, stimmt’s? Tja, dieses Schwarze und Buschige ist ein Teil von Leopolds Schwanz.«
»Was?«
Siri setzte sich auf.
»Der Punkt ist, dass ich Mille damals fotografiert habe. Sie war zu mir ins Arbeitszimmer gekommen, um etwas zu fragen. Es ging sicher um die Kinder. Und aus irgendeinem Grund hat sie mir erzählt, dass sie keine Fotos von sich als Erwachsene hat, und darum habe ich sie mit ihrem Handy fotografiert. That’s it . Das ist alles. Und genau in dem Moment ist Leopold wohl aufgesprungen und ins Bild gelaufen.«
Siri sagte nichts.
»Bist du noch dran, Siri?«
»Ja.«
»Es war nur ein Foto.«
»Ja.«
»Kommst du heute Abend nach Hause?«
Siri schaltete das Babyfon aus und wieder an. Klick klick.
»Ja, ich fahre nachher los. Dann können wir weiterreden.«
Sie war noch nie gern nachts gefahren, die staubige Wärme im Auto, das Scheinwerferlicht, das in langen Strichen über die Landschaft geworfen wurde, die sie so gut kannte, mit der sie aber nie vertraut geworden war. Diesmal war es so, als könnte sie den Blick nicht auf der Straße halten, die Hände nicht am Steuer, am liebsten
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