Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Verschwiegene: Roman (German Edition)

Das Verschwiegene: Roman (German Edition)

Titel: Das Verschwiegene: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linn Ullmann
Vom Netzwerk:
es kein Reflex war.
    Sein Handy piepte. Er kramte es mühsam aus der Hosentasche.
    Das Schlimmste ist, nicht zu wissen, was passiert ist, wohin sie verschwunden ist. Das Zweitschlimmste ist, dass heute ein neuer Tag ist, und morgen ist wieder ein neuer Tag. A.
    Jon hatte sich seine eigene Bank gesucht, saß in der Herbstsonne und machte sich Notizen zu seinem Roman (er hatte immer ein Notizbuch dabei, vertraute nicht mehr darauf, dass er sich an Dinge erinnerte, an die er sich erinnern wollte; mehrmals hatte er es schon erlebt, dass er etwas gesehen oder gehört hatte oder dass ihm etwas eingefallen war, was er wichtig fand, eine Eingebung vielleicht, und wenn er dann am nächsten Tag vorm Bildschirm saß, war sie weg. Er konnte zwar das Gefühl von Hochstimmung heraufbeschwören, das die Eingebung in ihm ausgelöst hatte, aber die eigentliche Eingebung hatte er vergessen. Und darum, weil er Dinge vergaß, auch wichtige Dinge, hatte er stets ein Notizbuch in der Tasche, und darin trug er, sooft er konnte, Sachen ein).
    In seinem Arbeitszimmer zu Hause hatte er alte Dokumente durchgesehen und die Notizen zu Herman R. gefunden, dem Mann, der eine Geschichte erzählen wollte und dem es dabei gelungen war, die ganze Welt gegen sich aufzubringen.
    Herman R. hatte Buchenwald überlebt und sich im Alter von siebzig Jahren hingesetzt und sein Leben in eine Lügengeschichte verwandelt, indem er über ein Mädchen schrieb, das Äpfel über einen Zaun warf. Was hätte er nicht alles erzählen können! Was hätte er nicht alles bezeugen können! Warum dann das kleine Mädchen? Warum die Äpfel? War es Liebe? Der Glaube an die Allereinzige? Mochte die Finsternis, in der er sich befand, noch so groß sein, so war seine Liebste nicht weit weg – ging es darum? Oder war es etwas anderes? Eine Ohnmacht? Vielleicht war die kleine Geschichte die einzige, die er erzählen konnte? Die kleine Geschichte über die kleine Welt, in der das Mädchen mit den Äpfeln nie weit weg war? Und warum sollte er das nicht dürfen? Herman R. war nicht auf die Welt gekommen, um sie zu durchschauen. Zeit, Ort und Umstände hatten ihn brutal in die große Geschichte hineingeworfen, dabei wäre Herman R. lieber in der kleinen gelandet. Aber, überlegte Jon, durfte man es sich so leicht machen ? Zu Kitsch greifen?
    Falls die winzig kleine Geschichte über das winzig kleine Mädchen, das Äpfel über einen stromführenden, streng bewachten Stacheldrahtzaun in Buchenwald warf, alles um sich herum in Vergessen und Licht verwandelte – tja, was dann?
    »Glaubst du, es ist so?«, flüsterte Siri und drehte sich zu ihm um. Er hatte so getan, als würde er schlafen, sie hatten sich in jenem Sommer in Gloucester vor vielen, vielen Jahren die ganze Nacht über wach gehalten. Zuerst hatte er Geschichten erzählt, dann sie, und schließlich hatte sie geflüstert: »Glaubst du, es ist so, du als Autor«, (dabei lachte sie ein wenig, und er weiß noch, dass er sich fragte, warum sie lachte, aber er hielt die Augen geschlossen und drückte ihre Hand, als wollte er sagen, ich schlafe, und ich schlafe nicht), »dass man schreibt, um ein anderer zu werden, und wenn man ein anderer wird, will man dann sich selbst entkommen, oder bedeutet es womöglich mehr? Kann es nicht auch die Notwendigkeit bedeuten, aus sich heraus- und in einen anderen hineinzutreten, den Platz eines anderen einzunehmen, mitzufühlen, mitzuleben, mitzuatmen?«
    Als der Oktober in den November überging, musste Jon seine Spaziergänge nach Torshov (zum Metzger, in die Kaffeebar und in den Park) ohne Leopold machen. Die Spaziergänge mit dem Hund wurden immer kürzer, zum Schluss waren es nur noch Pinkelrunden in der Nachbarschaft. Leopold zog nicht mehr an der Leine. Jon erinnerte sich an die Kraft in dem großen Körper. Die Kämpfe, die Leopold und er ausgefochten hatten, als es um die Frage ging, was für ein Hund Leopold zu sein hatte. Doch Leopold wollte nicht mehr kämpfen, er klebte an Jon, wenn sie draußen spazieren gingen, ängstlich, dankbar und besiegt.
    Jon kaufte Hühnerinnereien, Herz, Leber, Nieren und andere Eingeweide, doch in letzter Zeit schnüffelte Leopold nur noch an dem Essen, legte sich in eine Wohnzimmerecke und schlief weiter. Nach der letzten Untersuchung hatte der Tierarzt Leopold den Bauch getätschelt und gesagt: Da ist nicht mehr viel zu machen, er hat zumindest keine Schmerzen, wobei sich das von einem Tag auf den anderen ändern kann, es hat schon ziemlich gestreut, und

Weitere Kostenlose Bücher