Das Verschwiegene: Roman (German Edition)
dann hatte er Siri und Jon angeschaut und gesagt: Wichtig ist jetzt, dass Sie es sich Weihnachten so schön wie möglich machen, dass Sie ihn im Arm halten und seine Pfoten massieren und dass Sie sich darauf vorbereiten, im neuen Jahr ein paar schwierige Entscheidungen zu treffen.
Jon hatte angefangen, früh aufzuwachen. Das frühe Aufwachen war neu. Er stand vor sechs Uhr auf, duschte, frühstückte und trank stehend eine Tasse Kaffee an der Küchenzeile, pfiff nach Leopold, und schon zogen sie los. Als Leopold krank wurde, änderte er die Routine. Zuerst ging er mit Leopold eine kleine Runde ums Haus, dann machte er seinen langen Morgenspaziergang nach Torshov, und wenn er wieder zu Hause war, setzte er sich hin und schrieb.
Sie hatten Dezember, und er war zurück in Mailund, und auch hier wurde er früh wach. Er schlug die Augen auf, und für einen kurzen Moment war alles leer. Er war niemand. War nicht Gedanken. Nicht Fleisch. Nicht Schlaf. War nicht wach. Bis ihm alles einfiel. Bis er sich an alles erinnerte. Die helle Strecke zwischen Sein und Nichtsein.
Als Erstes nach dem Aufwachen streckte er die Hand aus und berührte Siri, sie schob ihn nicht weg, sie teilten sich das Bett, aber meistens drehte sie sich um und schlief weiter. Sie hatte wieder angefangen zu träumen. Albträume, die sie mitten in der Nacht weckten, und manchmal erzählte sie ihm davon und manchmal nicht. Die Träume hatten mit Jennys Tod begonnen. Ich hätte mehr tun müssen , sagte sie und setzte sich im Bett auf. Jon nahm ihre Hand und drückte sie auf seine vertraute Art, so wie er sie gedrückt hatte, als sie in Gloucester waren und sie nicht schlafen konnte, als sie nebeneinander in der Dunkelheit lagen und sich gegenseitig Geschichten erzählten. Siri legte sich wieder hin, fand aber keine Ruhe. Sie hätte mehr begreifen müssen! Sie hätte besser aufpassen sollen! Es gab so vieles, was sie noch hätte sagen wollen. Aber jetzt war ihre Mutter tot, und was gesagt war, war gesagt, und sie konnte jetzt nicht alles zurücknehmen und wieder von vorn anfangen. Und dann war da die Sache mit Alma.
Wir müssen über Alma reden.
Jenny starb nur wenige Tage, bevor drei Jungen Mille im Wald fanden. Derjenige, den sie KB nannten, wurde sofort zu neuen Verhören einbestellt, sein Status wechselte vom Zeugen zum Verdächtigen, und er kam in Untersuchungshaft.
Aber keiner wusste, was Jenny Siri wenige Tage vor ihrem Tod erzählt hatte, dass sie nämlich Mille an jenem Abend auf der Straße gesehen hatte.
»Ich weiß, was ich gehört habe, Jon. Ich weiß, worüber sie gesprochen hat. So verrückt war sie nicht. Manchmal glaube ich, sie hat nur so getan.«
»Was meinst du damit?«
»Sie hat nur so getan, als ob sie verrückt wäre.«
»Warum sollte sie das tun?«
»Um sich zu entziehen«, sagte Siri. »Einfach nur, um sich entziehen zu können. Überleg mal, wie befreiend das ist. Ich bin total gaga, niemand kann mich für irgendwas verantwortlich machen. Ich gehöre nicht mehr zur Gemeinschaft der Menschen. «
»Ich glaube nicht, dass es so war«, sagte Jon.
Siri flüsterte: »Mama ist nicht nur betrunken mit Alma im Auto gefahren … sie hätte sie umbringen können, sie hätte gegen einen Baum prallen und sie umbringen können … sie hätte Alma umbringen können!«
Jon nickte.
»… und dann erfahre ich, dass Mama und Alma die Letzten gewesen sein könnten, die Mille lebend gesehen haben. Und hat sie etwas gesagt? Nein! Und was ist mit Alma? Was hat Alma gesehen? Was sollen wir Alma sagen? Glaubst du, Alma hat etwas gesehen? Was sollen wir der Polizei sagen? Und Amanda? Sie ruft an und verschickt SMS , und wir sagen nichts. O nein. Sie ist etwas lästig, nicht wahr? Mit ihrer Trauer und ihren Anrufen. Denn was können wir anderes tun, als unser Mitgefühl auszudrücken? Was heißt das, verdammt noch mal? Amanda sagt: Ihr wisst etwas über meine Tochter, was ihr nicht erzählt. Und wir sagen, nein, das stimmt nicht, und dann sagen wir uns, dass sie vor Trauer verrückt geworden ist. Sie schickt SMS , ruft an und legt auf, sie überfällt uns, und wir nehmen es hin, weil sie ihre Tochter verloren hat. Dabei hat sie recht! Sie hat recht! Wir wissen etwas, und wir erzählen es nicht, und ich weiß nicht, was wir tun sollen.«
»Egal wie«, sagte Jon leise, »es hätte keinen Unterschied gemacht. Das, was wir wissen, meine ich. Sie ist trotzdem tot.«
»Das stimmt nicht, Jon«, sagte Siri, »es ist nicht wahr, dass es keinen
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