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Das Verschwiegene: Roman (German Edition)

Das Verschwiegene: Roman (German Edition)

Titel: Das Verschwiegene: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linn Ullmann
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schüttelte den dünnen Körper, schüttelte den schweren Kopf, der bald abfallen würde, schüttelte die langen welken Haare (die sie einst beide eingehüllt hatten), schüttelte die alten, leergepumpten Brüste und das klopfende Herz, schüttelte die ausgezehrten Stimmbänder, die täglich neue unverständliche Laute hervorpressten. Zwei ausgezehrte Bänder, die sich von Jennys Mund zu Siris Ohren wanden.
    »Welches Mädchen?«, fragte Siri.
    »Nicht«, flüsterte Jenny.
    »Welches Mädchen?«
    »Nein!«, sagte Jenny. »Nicht!«
    Und vielleicht hätte Siri ihre Mutter so lange geschüttelt, bis nichts mehr von ihr übrig gewesen wäre, hätte sich nicht eine dritte Stimme eingemischt.
    »Stopp!« Siri drehte sich um. Irma füllte die ganze Türöffnung aus. »Raus mit dir«, zischte sie.
    Aber Siri wollte nicht aufhören.
    »Welches Mädchen?«, rief sie Irma zu. »Meint sie Mille?«
    Sie starrte wieder ihre Mutter an.
    »Meinst du Mille?«
    »Raus mit dir«, sagte Irma.
    Siri hatte Jennys Schultern losgelassen, und die Mutter kauerte sich im Bett zusammen.
    Irma rührte sich nicht.
    Siri schrie weiter. »Hast du an dem Abend, an dem du mit Alma besoffen im Auto gefahren bist, Mille gesehen? Ist es so? Hast du sie gesehen und nichts gesagt? Hast du sie …«
    Doch diesmal machte Irma drei Schritte durch das Zimmer und stürzte sich auf sie.
    »Raus mit dir!«, schrie sie. »Raus mit dir!«
    Und dann zog sie Siri weg, beförderte sie über die Türschwelle und schlug die Tür hinter ihr zu.

VI
Die Halbtöne

A ls sie in Oslo losfuhren, hatte es angefangen zu schneien, und der Schnee war ihnen bis nach Mailund gefolgt, Schnee auf den Straßen, Schnee auf der Windschutzscheibe, Schnee auf den Kindern, als sie an der Tankstelle in den Verkaufsraum liefen, um Süßigkeiten zu kaufen, Schnee auf den Bäumen, Schnee auf den Dächern, Schnee auf den Äckern, Scheunen und Wohnhäusern, Schnee auf den Anlegern und auf der langen Straße, die sich von der alten Bäckerei hinauf zum Haus wand, und jetzt waren sie seit zwei Tagen hier, und es hörte nicht auf zu schneien.
    Bald war Heiligabend, den wollten sie in Mailund feiern.
    »Können wir nicht einfach hinfahren und ein bisschen bleiben«, hatte Siri gesagt.
    Sie wusste nicht, was sie mit dem Haus der Mutter machen sollte. Es war seit kurz nach dem Krieg in Familienbesitz, und sie wollte es nicht verkaufen.
    »Wir brauchen das Geld«, sagte sie, »ich kann mir nur nicht vorstellen, dass künftig Fremde hier wohnen.«
    »Nein«, sagte Jon.
    Er sah sie an. Er saß auf dem Sofa, und sie schaute aus dem Fenster und kehrte ihm den Rücken zu. Sie betrachtete den Garten, den Ahornbaum, das weiße Beet, weißer denn je, von Neuschnee bedeckt. Er sehnte sich danach, eine Hand auszustrecken und ihre gekrümmte Taille zu berühren.
    Jon hatte sich kürzlich auf eine befristete Stelle als Lektor in einem neu gegründeten Buchclub beworben und die Stelle bekommen. Nach Weihnachten sollte er anfangen, das passte gut. Zur Arbeit gehen zu können.
    »Aber«, sagte Siri, »es zu behalten ist bestimmt viel zu teuer.«
    Sie machte eine ausladende Armbewegung, als wollte sie das ganze Haus umschließen.
    »Es ist ja völlig heruntergekommen, und ich weiß nicht, wie wir zwei es schaffen sollen, es instand zu halten. Weder haben wir die nötigen Mittel für eine Renovierung noch für den Unterhalt, wir haben nicht einmal genug Geld, um den Warmwasserbereiter austauschen zu lassen, ganz zu schweigen von den elektrischen Leitungen, ich glaube, der Sicherungskasten stammt aus den fünfziger Jahren, und es wäre grausam, einfach dazusitzen und zuzusehen, wie es verfällt.«
    »Ich kann die Dachrinnen reinigen«, sagte Jon.
    Siri drehte sich um und lächelte. Das Licht, das durch das Fenster kam, fiel auf ihr Gesicht, und er hätte ihr gern gesagt, dass sie für ihn leuchtete, wie sie dort stand, aber er ließ es bleiben, er wusste genau, dass sie, falls er sagen würde, du stehst da und leuchtest für mich , mit den Schultern zucken und sich sofort wegdrehen würde. Jon musste sich eine neue Sprache ausdenken, eine ohne das Wort Licht , wenn er Siri erreichen wollte.
    In den letzten Monaten waren Jon und Leopold jeden Tag auf ihrem Morgenspaziergang zum Metzger in Torshov gegangen, in Oslo gab es nicht mehr sehr viele Metzger, aber in Torshov gab es einen, des Weiteren einen hübschen kleinen Park, in den Jon sich mit einer Tasse Kaffee setzen konnte, während Leopold herumstreunte. Leopold

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