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Das Verschwiegene: Roman (German Edition)

Das Verschwiegene: Roman (German Edition)

Titel: Das Verschwiegene: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linn Ullmann
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Unterschied macht. Das ist nicht wahr!«
    »Ich meine nur«, sagte Jon, »dass keiner vorhersehen konnte, wozu dieser KB imstande war, falls er es denn war, aber das bezweifelt anscheinend niemand mehr, oder? Er hat sie vergewaltigt, ist ihr mit dem Wagen gefolgt, hat sie umgebracht und im Wald vergraben. Das ist alles, was wir wissen. Er war es. Und über ihn wissen wir nichts … außer dass er bis zu diesem Abend ein sogenannter normaler Junge war.«
    Siri und Jon hatten dieses Gespräch oder Variationen davon seit Jennys Bekenntnis wenige Tage vor ihrem Tod immer wieder geführt. Vielleicht, sagte Jon zu Siri, hatte Jenny von etwas ganz anderem gesprochen. Das würden sie nie erfahren. Siri durfte nicht vergessen, dass man Jenny kaum noch verstehen konnte, als sie im Sterben lag, sie war nicht bei Verstand gewesen, sie hatte nicht verrückt gespielt , meinte Jon, sie war verrückt gewesen , und vielleicht hatte sich Siri das mit Mille am Wegesrand nur ausgedacht, vielleicht hatte Siri aus Furcht und Angst allzu viel zu der Katastrophe hinzugedichtet.
    »Und genau darum«, sagte Jon, »sollten wir Alma nicht mit irgendwelchen Verhören quälen. Die alten Wunden wieder aufreißen. Sie fragen, was sie vor mehr als zwei Jahren gesehen haben könnte oder auch nicht, als sie mit ihrer Oma im Auto durch die Gegend fuhr.«
    Jon holte tief Luft.
    »Die Wahrheit ist«, sagte er, »dass Jenny fabuliert hat.«
    »Ich weiß nicht«, sagte Siri. »Ich weiß nicht, ob sie fabuliert hat.«
    »Sie kann alles Mögliche gemeint haben«, sagte Jon. »Wir haben damals alle mit der Polizei gesprochen. Weißt du noch? Auch Alma. Keiner hatte Mille gesehen. Sollen wir Alma wirklich wieder in diese Sache hineinziehen?«
    Irma hatte das letzte Gespräch zwischen Siri und Jenny auf ihre eigene Art gedeutet. Am Tag nach dem Zwischenfall im Schlafzimmer hatte sie Jon angerufen und ihm gesagt, Siri habe eine Grenze überschritten .
    »Was für eine Grenze denn?«, fragte Jon.
    Siri habe geschrien, meinte Irma. Siri habe Jenny geschüttelt. Siri habe regelrecht riskiert, ihre eigene Mutter umzubringen.
    Das war Irmas Version. So sah Irma es.
    Und Irma wollte in diesem Zusammenhang an die Vereinbarung zwischen ihr und Siris Mutter erinnern, dass Irma nämlich auf die Art und Weise, die sie für die beste hielt, für Jenny sorgen sollte, wenn der Tag gekommen war, an dem Jenny nicht mehr für sich selber sorgen konnte , und das hier war der Tag, sagte sie, und sie wollte Jon und Siri höflich bitten, den letzten Wunsch einer kranken Frau zu respektieren und sich von Mailund fernzuhalten. Irma sah es als ihre Pflicht, für Jenny zu sorgen, solange sie noch zu leben hatte, und darum hatte sie tatsächlich beschlossen, Siri weitere Besuche zu verbieten .
    »Du kannst Siri überhaupt nichts verbieten «, sagte Jon. »Das kannst du nicht! Und deine Anschuldigungen gegenüber Siri sind unhaltbar. Sie sind einfach nur gemein.«
    »Ich war dabei, ich habe gesehen, was ich gesehen habe«, sagte Irma.
    »Trotzdem kannst du Siri nicht verbieten , dass sie ihre Mutter besucht.«
    »Kann ich nicht?«, sagte Irma und knallte den Hörer auf.
    Am nächsten Tag war Jenny tot. Irma schickte eine SMS und informierte Jon darüber und bat ihn, seiner Frau die Nachricht zu überbringen. Sie überließ es der Familie, die Bestattung zu organisieren.
    Des Weiteren schrieb sie:
    Mein Auftrag ist erfüllt.
    Nach dem Begräbnis hatte Irma ihre Koffer gepackt, ein letztes Mal die Enten in dem zugewachsenen Gartenteich gefüttert, einem Bekannten im Brageveien den Hund und das Meerschweinchen geschenkt und das Haus verlassen, um nie mehr wieder gesehen zu werden. Jon meinte gehört zu haben, dass sie eine Bleibe in Hemsedal hatte, doch bei näherem Nachdenken gelangte er zu dem Schluss, dass er sich verhört oder etwas falsch verstanden haben musste. Er schaute noch einmal in seine Notizen. Er erinnerte sich, dass er es aufgeschrieben hatte. Irma in Hemsedal? Doch. Genau so stand es da. Vielleicht hatte er es geträumt? Er sah sie vor sich. Irma mit dem riesigen Körper, Irma mit dem Engelsgesicht, Irma mit den langen lockigen Haaren, wie sie auf Skiern den Hang hinuntersauste.
    Es wurde ein leises Fest mit den Kindern, und weiterhin fiel Schnee. Jon und Alma und Liv gingen an Heiligabend morgens in den Wald, um einen Baum zu fällen. Sie liefen durch den Wald, und wann immer Jon sagte: Seht mal, die Tanne hier könnten wir als Weihnachtsbaum nehmen, antwortete Liv: Nein,

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