Das Verschwiegene: Roman (German Edition)
Stimme, ein Mund, ein Alphabet, ein roter Faden und nicht auseinanderfallen, sich holterdiepolter auflösen.
»Deine Hauptaufgabe«, sagte Siri, »besteht darin, Liv etwa fünf Stunden am Tag zu hüten. Du kannst dich aber auch gern ein bisschen um Alma kümmern. Alma ist zwölf. Sie ist …«, Siri suchte nach dem richtigen Wort, »sie ist manchmal ziemlich einsam.«
Mille lachte vorsichtig, strich sich die Haare aus dem schönen Mondgesicht und sagte, das höre sich wunderbar an.
Es war ein klarer milder Tag im Mai, und Siri hatte Mille in ihr Reihenhaus in Oslo eingeladen, damit sie sich vor dem Sommer ein wenig kennenlernten. Alma war in der Schule, Liv im Kindergarten, und Jon drehte mit Leopold eine große Runde. Er hatte ein Problem mit einem Kapitel, das er nicht in den Griff bekam.
Mille hatte für den Ferienjob auf eine Anzeige auf www.finn.no geantwortet, und Siri hatte ihre Bewerbung gut gefallen. In der Mail wirkte sie wie ein warmherziges, fröhliches und zuverlässiges Mädchen. Es wäre phantastisch, wenn ich Sie kennenlernen und im Sommer zu Ihrer Familie gehören dürfte. Wenn ich den Job kriege, werde ich mein Bestes geben, um Ihren Töchtern eine gute »große Schwester« zu sein, so dass Sie sich bei der Arbeit keine Sorgen zu machen brauchen.
Vielleicht konnte Mille etwas Freude verbreiten? Vielleicht – hatte Siri gedacht –, vielleicht, vielleicht, vielleicht gab es so etwas wie Freudenverbreiter. Und Siri hatte sich möglicherweise auch davon beeinflussen, beeindrucken oder faszinieren lassen, dass Milles Mutter, Amanda Browne, eine bekannte (oder ziemlich bekannte) amerikanische Künstlerin war, die in Oslo wohnte.
Und jetzt saßen sie hier. Mille und Siri. Mille hatte den Job bekommen. Und Siri bereute es.
Sie lächelte.
»Jon ist Schriftsteller«, sagte sie, »und muss ein Buch zu Ende schreiben. Ich betreibe ein kleines Fischrestaurant am Markt, fünf Minuten von Mailund entfernt, zusätzlich zu dem Restaurant, das ich in Oslo leite. Das Fischrestaurant, das Gloucester MA heißt, nach einem Fischerdorf bei Boston, hat nur im Sommer geöffnet, und ich werde fast die ganze Zeit über dort sein. Es gibt viel zu tun. Ich …«
Siri unterbrach sich selbst. Es hatte keinen Sinn, Mille zu erklären, wie viel Arbeit zwei Restaurants machten.
»Und außerdem haben wir es gern ordentlich um uns herum«, fuhr sie fort. »Es wäre schön, wenn du ein bisschen mit anpacken könntest. Am besten ist es, wenn alle in der Familie mithelfen, dann geht alles schnell und leicht von der Hand. Wenn du bei uns wohnst, gehörst du gewissermaßen zur Familie.«
»Ja«, sagte Mille und wirkte verwirrt. »Toll. Ich freue mich total.«
Sie hob die Hand und strich sich über die Wange. Ihre Armreife klimperten. Davon trug sie viele um das Handgelenk. (Dünne. Aus Silber.) Sobald Mille die Hand bewegte, zum Beispiel, wenn sie sich über die Wange fuhr (warum tat sie das?), klimperte es.
»Ich werde für meine Mutter im Sommer eine Feier ausrichten«, sagte Siri. »Sie wird fünfundsiebzig. Dabei kann ich gut etwas Hilfe gebrauchen.«
Mille nickte unsicher.
Siri trug niemals Schmuck. Keine Armreife, keinen Ohrschmuck, nichts um den Hals, nur den Ehering, den sie jeden Abend abnahm.
Das Geräusch von Milles Armreifen erinnerte sie an ihre Kindheit, als sie neben der Mutter auf dem Sofa saß.
Siri sah ihre Mutter vor sich. Jenny Brodal saß da und las, das tat sie oft, sie hatte mehr gelesen als alle anderen auf der Welt. Es war mucksmäuschenstill, wenn sie so dasaßen, außer wenn Jenny umblätterte und die Armreife klimperten.
»Wir sind jeden Sommer in Mailund«, sagte Siri und bereute das ganze Unterfangen schon. Jon und sie könnten doch den Tag zwischen sich aufteilen, oder? Das hatten sie früher auch getan. Sie konnte Liv am Morgen nehmen und er am Nachmittag, wenn sie ins Restaurant musste. So hatten sie es früher gemacht, ja. Aber ohne dass es richtig funktioniert hatte. Außerdem durfte sie nicht davon ausgehen, dass Jon seinen Part übernahm. Sie durfte nicht …
»Ein großes, altes Haus«, sagte sie und unterbrach ihren Gedankenfluss. »Ja, wir haben ein Nebengebäude im Garten, dort wirst du wohnen. Mit eigenem Bad und einem großen Bücherregal.«
»Ja«, sagte Mille und kicherte.
Siri zwang sich selbst zu einem Lächeln. Warum kicherst du? Sie versuchte, gegen ihre Ungeduld anzukämpfen. Fast zwanzig Jahre in der Gastronomie und so weiter. Das blieb nicht ohne Folgen. Und all die
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