Das Verschwiegene: Roman (German Edition)
fragte sich, ob Gerda seine Worte überhaupt gehört hatte. Es war ein Gefühl, das ihn zunehmend beschlich. Dass ihm eigentlich niemand zuhörte.
»Das ist es nicht«, sagte er. »Ich habe lediglich das Gefühl, dass ich es nicht zu fassen kriege.«
Heute aß niemand mehr Semmeln. Weder kalte noch warme. Weizen war das neue Gift. Doch kurz nachdem Siri Alma zur Welt gebracht hatte und nicht mehr aufhörte zu weinen, weil ihr das Stillen so große Schmerzen bereitete, backte Jon ihr Semmeln. Etwas anderes konnte sie nicht essen. Sie war völlig erschöpft und zutiefst dankbar. Am Boden zerstört, mit diesem fremden Kind im Arm, wollte sie nichts anderes haben als noch mehr Semmeln.
Er hatte sie alle zum Narren gehalten. Das Cover war fertig, der Vorschautext lag vor, er hatte zugesagt, auf der Pressekonferenz des Verlags Ende August aus seinem Buch vorzulesen. Jetzt war schon Juli. Jenny Brodal wurde fünfundsiebzig. Und das Buch würde nicht fertig werden.
»Was genau kriegst du nicht zu fassen?«, hatte Gerda gefragt.
»Ich weiß es nicht. Ich habe das Gefühl, dass alles auseinanderbricht«, sagte Jon. »Ich kriege es nicht hin. Ich werde nicht rechtzeitig fertig.«
Jon hatte sie verzweifelt angeschaut. Warum nahm ihn niemand in den Arm und half ihm?
»Du wirst fertig werden«, sagte Gerda. »So geht es dir immer, wenn eine Deadline näher rückt.«
Jon trank einen Schluck Light-Bier und sah aus dem Fenster. Draußen auf der Blumenwiese spielten seine Töchter. Alma und Liv. Alma schwarzhaarig und mit dunklen Augen. Liv blond und fröhlich. Sie pflückten Blumen und tanzten in der Sonne mit der jungen Frau, die Siri als Kindermädchen engagiert hatte. Die Mille hieß. Er hatte sie gestern Abend nur kurz begrüßt, nachdem Siri sie an der Bushaltestelle abgeholt hatte. Er betrachtete Alma und Liv. Sie hüpften herum, und Liv lachte und legte sich ins Gras und machte Engelbewegungen im Schnee, obwohl kein Schnee lag und kein Abdruck im Gras zurückbleiben würde. Etwas, woran man sich festhalten konnte. Etwas Reales. Alma drehte sich um und sah hoch zu seinem Fenster, aber im Dachzimmer war es so dunkel und draußen so hell, dass sie unmöglich sehen konnte, wie er dort stand und ihr zusah. Sich nicht gehen lassen. Ein anständiges Leben führen. Die Mädchen im Arm halten. Sie beschützen. Sich nicht gehen lassen.
Vielleicht wusste Alma, dass er dort stand und ihr zusah, denn jetzt führte sie in dem hohen Gras einen wilden Tanz auf und starrte zugleich zu seinem Fenster hinauf. Sie drehte sich unablässig im Kreis, und plötzlich fiel sie hin. Jon lachte. Alma stand wieder auf und sah hoch, als hätte sie sein Lachen gehört. Ihre kurzen dunklen Haare. Das rundliche Gesicht. Der kleine, noch nicht entwickelte Körper. Sie drehte sich erneut. Unablässig im Kreis.
Jon wandte sich von ihr ab und suchte Liv, die sich etwas dichter am Wald hielt, sie hatte eine Stelle gefunden, an der ganz offensichtlich viele Blumen wuchsen. Sie ging voraus, Mille hinterher. Sie hatte schon einen dicken, bunten Strauß zusammen.
Jon blieb am Fenster stehen. Aber jetzt sah er nicht mehr Alma zu, die sich drehte und hinfiel, oder Liv, die Blumen pflückte. Er betrachtete Mille. Sie hatte lange dunkle Haare und große Augen. Einen schönen Körper. Das war ihm schon gestern Abend aufgefallen. Neunzehn oder zwanzig. Er war sich nicht sicher. Schüchtern und etwas linkisch. Verschwitzte Hände. Ein offener Blick, als sie ihn begrüßte. Sie hatte seine Hand ein wenig länger gehalten als nötig, und etwas in ihrem Blick sagte ihm, dass sie ihn, obwohl sie noch so jung war, wahrgenommen hatte. Sie lief mit einer Blume hinter Liv her und wollte, dass Liv die Blume in ihren Strauß aufnahm. Etwas in ihm kam zur Ruhe. Er hatte das Gefühl, dass alles den Bach hinunterging.
Es war schön, hier zu stehen, Mille zuzusehen und an nichts zu denken.
D och etwas stimmte nicht. Siri hielt die Luft an. Es hatte mit Mille zu tun. Oder mit etwas anderem. Aber Mille hatte definitiv damit zu tun. Ihre Anwesenheit in Mailund. Der etwas zu schwere Körper, die langen dunklen Haare (lange dunkle Haare auf der Küchenzeile, im Waschbecken im Bad, zwischen Sofa und Sofakissen, auf den Fußleisten und auf den Türschwellen), das hübsche, aber ausdruckslose Gesicht, der flehende Blick.
Siri erlebte immer häufiger, dass sie sich konzentrieren musste, um sich im Zaum zu halten – hieß es so? Sich im Zaum halten? Eins sein. Ein Körper, eine
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