Das Verschwiegene: Roman (German Edition)
Arbeit daheim. Sie konnte den Finger nicht darauflegen. Was habe ich eigentlich aus meinem Leben gemacht?
»Meine Mutter und ich haben bis zu meinem vierzehnten Lebensjahr in Mailund gelebt, dann sind wir nach Oslo gezogen«, sagte Siri, irgendetwas musste sie schließlich sagen. »Meine Mutter war Buchhändlerin. Sie hatte eine Buchhandlung in der Nähe der alten Bäckerei – in der ich heute ein Fischrestaurant betreibe. Das alles wirst du sehen, wenn du kommst. Wir werden es dir zeigen, die Kinder und ich.«
Siri fiel auf, dass Mille an etwas anderes dachte, dass sie an Siris Angebot nicht besonders interessiert war: Wir werden es dir zeigen, die Kinder und ich.
Die Verandatür stand offen, und Siri hörte die Stimmen der Nachbarskinder, Emmas Töchter, sieben und neun Jahre alt (älter als Liv, aber jünger als Alma), die an diesem Tag offensichtlich früh abgeholt worden waren. Sie klatschten sich gegenseitig ab und sagten einen Kinderreim auf, den sie aus Almas ersten Jahren in Erinnerung hatte.
Unterm Apfelbaum
Saß ein Junge und sprach
Umarme mich
Küsse mich
Zeig, dass du mich liebst .
»Danach hat sie viele Jahre hier in Oslo gearbeitet«, fuhr Siri fort, »in einer großen Buchhandlung, die es heute nicht mehr gibt. Sie hatte die Verantwortung für die internationale Literatur. Als sie in Rente ging, zog sie endgültig nach Mailund. Sie wohnt mit Irma zusammen, die ihr bei den praktischen Dingen hilft. Du wirst die beiden kennenlernen.«
»Haben Sie keine Geschwister?«, fragte Mille. Und ohne die Antwort abzuwarten, sagte sie: »Ich auch nicht.«
»Nein«, sagte Siri. »Ich habe keine Geschwister.«
Sie sagte nicht: Aber glaub mir, deswegen haben wir in diesem Punkt noch lange nichts gemeinsam.
Stattdessen sagte sie: »Ich hatte einen kleinen Bruder, aber er ist mit vier Jahren gestorben.«
»Oh«, sagte Mille und sah zu Boden. »Das ist ja traurig.«
»Ja«, sagte Siri. Sie versuchte, den roten Faden wieder aufzunehmen.
Damals war Jennys Haut ganz weich, so weich, dass man sich an sie schmiegen und die Nase unter das offene, zerschlissene Nachthemd zwischen ihre Brüste stecken konnte. Sie roch so gut. Sie benutzte ein Parfüm namens L’Air du Temps.
Unterm Apfelbaum
Saß ein Junge und sprach
Umarme mich …
Siri überlegte, dass es nicht dumm wäre, Milles Eltern anzurufen. Siri wollte ihrer Mutter und ihrem Vater versichern, dass Mille in guten Händen war. Geordnete Verhältnisse. Gute Entlohnung. In der Zeitung stand so viel über Au-pairs und Praktikanten, die schlecht behandelt wurden: philippinische Mädchen, die mit einem Hungerlohn abgespeist wurden und dafür rund um die Uhr schufteten, junge Frauen, die anderer Leute Kinder hüteten, um ihre eigenen in der Heimat versorgen zu können, Norweger, denen die Vorstellung eines Dienstmädchens im Haus gefiel.
»Wir werden gut auf sie aufpassen, sie wird zur Familie gehören«, sagte Siri.
»Wie schön«, sagte Amanda Browne, »aber Sweet Pea ist ja mündig und macht, was sie will.«
»Sweet was?«
Amanda lachte leise.
»Ach, das ist irgendwie hängengeblieben … Sweet Pea. So haben wir sie als kleines Mädchen genannt.«
Siri sagte: »Wenn Sie mit Ihrem Mann im Sommer nach Mailund kommen wollen, um Mille zu besuchen, haben wir in unserem Haus genug Platz für Sie. Sie sind herzlich willkommen. Gern lade ich Sie auch zum Essen ins Gloucester MA ein, in unser Sommerrestaurant.«
Siri hatte keine Ahnung, warum sie solche Sachen sagte. Sie wollte wahrlich nicht, dass die beiden kamen.
»O nein. Vielen Dank«, antwortete Amanda. »Mikkel und ich wollen uns auf keinen Fall aufdrängen.«
Siri hörte, dass es ihr unangenehm war.
»Wir haben schon lange Pläne gemacht«, fuhr Amanda fort. »Mille ist neunzehn und freut sich darauf, zu arbeiten und ihr eigenes Geld zu verdienen, wobei sie hoffentlich auch ein bisschen darüber nachdenken wird, was sie nach der Schule machen will.«
Und nun saß Siri da mit der etwas übergewichtigen und atemlosen Teenagerin, deren Hand auf dem Tisch nervös zitterte. Siri musste sich konzentrieren, um nicht ihre Hand daraufzulegen und zuzudrücken. Stopp! Reiß dich zusammen! Hör bitte auf zu zittern. Es war noch nicht zu spät. Sie waren noch in Oslo. Siri konnte noch immer sagen: Aus dem Ferienjob wird nichts. Aber sie traute sich nicht. Das Mädchen rechnete damit. Es war beschlossene Sache.
Später sagte Siri zu Jon: »Ihre Mutter nennt sie Sweet Pea.«
»So?«, sagte Jon, der Mille
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