Das Verschwiegene: Roman (German Edition)
zu diesem Zeitpunkt noch nicht kennengelernt hatte und sich auf alle erdenkliche Weise den Plänen, ein Kindermädchen mit nach Mailund zu nehmen, entgegengestellt hatte.
»Sollen wir sie auch Sweet Pea nennen?«
»Nein, nein. Ich dachte nur … sie hat eigentlich nichts Sweet-pea-haftes an sich.«
Mille quälte sich mit einer Frühlingserkältung, die nicht vorbeiging. Sie hatte gerötete Augen, war bleich und musste sich mehrmals schnäuzen. Siri hatte in ihrem Reihenhaus versucht, einige Dinge anzusprechen, hatte aber nichts von Bedeutung aus ihr herausgekriegt und rasch begriffen, dass man bei Mille nur zwei Antworten erwarten konnte: ein dünnes, zögerliches »schon«, das sowohl ja als auch nein als auch weiß nicht bedeuten konnte. Oder ein Kichern, das ebenfalls ja, nein oder weiß nicht bedeuten konnte.
Mille betrachtete Siri.
Unterm Apfelbaum
Irgendetwas an Mille – der Blick vielleicht – erinnerte Siri daran, wie sie selbst in diesem Alter gewesen war. Dorthin wollte sie nicht zurück. Siri lächelte (anstatt zu atmen) und fragte sich, wie sie aus der Nummer wieder herauskam. Jon hatte recht gehabt. Es war keine gute Idee. Eher eine sehr, sehr schlechte.
Saß ein Junge und sprach
Die Nachbarin Emma rief nach ihren Mädchen. Kommt jetzt rein, ihr zwei! , und die Mädchen lachten und rannten ins Haus.
»Also abgemacht«, sagte Siri. »Du kommst am fünfundzwanzigsten Juni runter, und ich hole dich an der Bushaltestelle ab. Es wird eine schöne Zeit werden. Eine sehr schöne Zeit.«
M ille hatte sich geschworen, in diesem Sommer eine andere zu werden. Innerlich wie äußerlich. Vom Scheitel bis zur Sohle. Wenn sie im August nach Oslo zurückkehrte, sollten alle sagen: Nein, Mille, was ist passiert? Du hast dich ja so verändert . Und dann würde sie geheimnisvoll lächeln und sagen: Nichts ist passiert, ich hatte einen schönen Sommer .
Hier im Nebengebäude war alles still. So still, dass man sogar denken konnte. Und beten.
Jenny Brodal gehörte das große weiße Haus. Der verfluchten Schwiegermutter , sagte Jon und beeilte sich, Mille zuzulächeln (und wenn er sie so anlächelte, wusste sie, dass zwischen ihnen etwas war) und hinzuzufügen, dass sie keiner Menschenseele je erzählen dürfe, was er über seine Schwiegermutter gesagt habe, die ja trotz allem Almas und Livs Großmutter sei. Sie müsse so tun, als habe sie es nicht gehört, sagte Jon und lächelte noch einmal.
Mille war seit ein paar Tagen in Mailund und befand sich eines Morgens allein mit Jon in der großen Küche. Er war in seiner eigenen Welt, und sie fragte sich, ob er an das Buch dachte, an dem er schrieb, ob er davon so absorbiert war, dass er sie nicht beachtete. Er kochte sich eine Tasse Kaffee, und sie lief um ihn herum, holte Brot und Butter und verschiedene Auflagen heraus, um für sich und Liv ein Proviantpaket zuzubereiten. Als sie anfing, die Brote zu schmieren, stellte sie sich neben ihn. Wird er etwas sagen? Wird er merken, dass ich neben ihm stehe? Nichts. Jon schwieg. Doch dann streckte er die Hand aus und fuhr ihr durch die Haare.
Sie blickte auf und sah ihn an, daraufhin zog er die Hand zurück.
»Schön«, sagte er, mehr zu sich selbst. »Sehr schön.«
Und dann, ohne sie eines weiteren Blickes zu würdigen, nahm er die Kaffeetasse und ging.
Als sie jünger war, bürstete Mille gern ihre langen dunklen Haare, zog sich ein hübsches Kleid oder eine enge Jeans an, schminkte sich und betrat dann einen Raum oder ging die Straße entlang, um herauszufinden, wie viel Aufmerksamkeit sie bekam. Jungen und Männer drehten sich nach ihr um, sprachen sie an, wollten sie haben. Schon mit zehn Jahren bekam sie Brüste. Ihre Mutter war groß, schlank, hart und flachbusig. Nichts, woran man sich kuscheln konnte. Der Körper ihrer Mutter war ein gespanntes Trampolintuch, rannte man dagegen, wurde man zurückgeschleudert.
Die Mutter wollte, dass Mille ihre Brüste unter großen kindlichen Baumwollpullovern verbarg. Sie kaufte hässliche Pullover und ließ sie hübsch einpacken – als handelte es sich um richtige Geschenke. Überraschungen. Ich habe dir etwas mitgebracht, Liebes. Ich habe eine Überraschung für dich. Und immer war es ein neuer Pullover Größe Medium oder Large. Weiße Pullover, rosa Pullover, blaue Pullover mit Rundhalsausschnitt. Mille hatte ihren eigenen Stil, sie sparte Geld, ging auf Flohmärkte und kaufte sich lange T-Shirts, die sie als Kleider über dicken, zerschlissenen Strumpfhosen trug,
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