Das Verschwiegene: Roman (German Edition)
waren, wie sie von all dem Grün eingehüllt wurden, aber sie konnte sich nicht daran erinnern, wo sie gewesen waren (eine Hütte auf dem Land, die sie gemietet hatten? Zu Besuch bei Freunden ihrer Eltern?) oder warum sie sich so beeilen mussten.
Rannten sie vor der Mutter und ihrer Kamera davon? Oder vor etwas anderem? War es vielleicht gar nicht so wichtig? Damals fühlte es sich wichtig an. Es fühlte sich immer noch wichtig an. Doch als sie ihren Vater Jahre später fragte, warum sie damals so gerannt waren, warum sie sich so beeilen mussten, begriff er nicht, wovon sie sprach.
»Vielleicht hast du das nur geträumt«, sagte er.
Als sie neun war, wollte der Vater mit ihr Schlittschuh laufen gehen. Nicht weit von ihrer Wohnung gab es eine Eisbahn. Mille lief nicht gern Schlittschuh. Konnte das Gleichgewicht nicht halten, fiel oft hin, verletzte sich anders und unangenehmer als auf normalem Boden. Fiel man zum Beispiel auf Asphalt, dessen Oberfläche echter war als Eis, trug man eine schöne frische Schürfwunde davon, die man untersuchen und im Blick behalten konnte. Es tat weh, aber man starb nicht daran. Fiel man aber auf Eis, war die Verletzung unsichtbar. Man machte Dinge im Körper kaputt, die nicht mehr heilten.
Mille hatte sich noch nie den Arm gebrochen, sie hatte sich noch nie das Bein gebrochen, sie hatte noch nie einen Gips getragen, aber sobald sie auf dem Eis hinfiel (was nicht selten geschah), kam es ihr vor, als würde irgendein winziger, aber entscheidender Knochen in ihrem Körper brechen.
»Sie hat schwache Knöchel«, sagte die Mutter. »Zwing sie nicht zum Schlittschuhlaufen. Könnt ihr nicht etwas anderes machen?«
»Sie hat keine schwachen Knöchel«, sagte der Vater, »was für ein Blödsinn.«
»Hast du ihre Knöchel gesehen?«, fragte die Mutter. »Die sind irre dünn. Puppenknöchel. Darum kann sie auch nicht das Gleichgewicht halten. Sie wird nie richtig das Gleichgewicht halten können.«
»So etwas Bescheuertes habe ich ja noch nie gehört«, sagte der Vater.
» ICH HABE AUCH SCHWACHE KNÖCHEL «, rief die Mutter. »Das hat sie von mir. In meiner Familie haben alle schwache Knöchel.«
Amanda und Mikkel redeten oft über Mille, als wäre sie gar nicht da. Es geschah fast ständig. Vielleicht glaubten sie, sie würde nicht zuhören, oder sie wäre noch so klein, dass sie nicht verstand, was sie sagten? Aber sie verstand sehr wohl.
Sie ging auf ihr Zimmer, zog die Strumpfhosen aus und studierte ihre Knöchel. Sie waren wirklich dünn. Sie umfasste den rechten Knöchel mit Zeigefinger und Daumen und musste lächeln. Darauf ließ sich aufbauen.
Ich bin Mille. Ich habe schwache Knöchel. Die habe ich von meiner Mutter. Meine Mutter heißt Amanda. Sie hat ebenfalls schwache Knöchel. Alle in Amandas Familie, die auch meine Familie ist, haben schwache Knöchel.
Jeden Sonntag auf die Schlittschuhe. Trotz der Knöchel. Der Vater glaubte der Mutter nicht. Er selbst habe ausgezeichnete Knöchel, sagte er. Die habe Mille auch. Nun komm schon. Er hielt ihr die Hand hin.
»Komm schon, Mille!«
Mille stand fröstelnd am Rand der Eisbahn und sah zu, wie die anderen vorbeisausten. Alle liebten das Eis, nur sie nicht. Dafür gab es eine Erklärung, schwache Knöchel , aber der Vater glaubte nicht daran.
»Nun komm schon, Mille!«
»Ich will nicht.«
»Okay«, sagte er. »Ich fordere dich heraus! Wenn du beim Knobeln gewinnst, brauchst du nicht weiterzulaufen. Dann gehen wir heim. Wenn ich gewinne, wagst du dich aufs Eis.«
Mille wand sich. Dass der Vater aber auch aus allem einen Wettkampf machen musste.
»Eins, zwei, drei«, sagte der Vater. »Komm schon, Mille. Eins, zwei, drei.«
Mille nahm widerstrebend den Arm hoch und flüsterte: »Eins, zwei, drei.«
Und dann etwas lauter: »Schere, Stein, Papier.« Sie sagten es im Chor.
»Stein«, flüsterte Mille und zeigte dem Vater eine Faust, dieser hatte seine Hand jedoch bereits geöffnet: »Papier.«
Er lächelte.
»Komm schon, Mille! Aufs Eis mit dir!«
Mille machte einen Schritt nach vorn, sie glitt nicht darüber, denn wenn sie versuchte – wie eine Eistänzerin – zu gleiten, plumpste sie sofort hin. Sie bohrte die Schlittschuhspitze ins Eis, um Halt zu finden. Die Knöchel zitterten. Sie stakste vorwärts. Hatte kalte Füße. Der Vater nahm ihre Hand.
»Gut so«, sagte er.
Es begann zu schneien, und Mille und der Vater blieben einen Augenblick Hand in Hand stehen und sahen einem jungen Mädchen im schwarzen Mantel zu,
Weitere Kostenlose Bücher