Das Verschwiegene: Roman (German Edition)
oder enge Pullover, kurze Röcke in knalligen Farben, Schals und Stiefeletten. Milles Mutter und Mille stritten sich ständig über ihre Klamotten, und die Streitereien hatten begonnen, als die Brüste kamen, große Brüste, die die Männer zwanghaft anstarrten.
Sie hieß Mille, was eine Abkürzung von Mildred ist, aber sie wurde auch Sweet Pea genannt. Es gefiel ihr, von Männern angestarrt zu werden. Wenn es nach ihr ginge, könnten sie gern mehr tun, als nur zu starren. Sie wollte sich an jemanden kuscheln, nicht weggeschleudert werden.
Mille redete nicht viel, daher würden viele sie wahrscheinlich als schüchtern oder scheu beschreiben. Sie erzählte niemandem von ihrer Kindheit. Erzählte nicht von ihrer Mutter, die Fotos von ihr machte, wenn sie schlief, badete oder spielte. Sie erzählte ihren Freunden nicht, dass ihre Mutter Künstlerin war und Fotos von der kleinen Mille in Galerien ausgestellt und in einem Buch publiziert worden waren, das Amandas hieß.
Sieh mich an, Mille. So ist’s gut! Jetzt nicht bewegen!
Sieh mich an!
Bleib noch einen Moment so stehen!
Amanda machte mehrere tausend Aufnahmen von ihrer Tochter als Kind, doch mit der Zeit wurde Mille übel bei der Vorstellung, fotografiert zu werden, und die Bilder, die es von ihr als Jugendliche und Erwachsene gab, nachdem sie dem Ganzen einen Riegel vorgeschoben hatte, konnte man an einer Hand abzählen. Keine Fotos mehr! Die Mutter hatte sie seinerzeit vereinnahmt, die Mutter und ihre Kamera, Mille musste mal in dieser Stellung, mal in jener posieren, mach mal ein ernstes Gesicht, Mille, jetzt ein fröhliches, tu so, als wäre ich nicht da , musste ihre Rolle als Mille spielen, ihre Rolle als Kind, ihre Rolle als Amandas nachdenkliches Töchterchen. Sie hasste das Buch, hasste die Aufnahmen von sich, mal mit Kleidern, mal nackt, sie hatten ihr etwas weggenommen, einen Teil von ihr, es war typisch für ihre Mutter, das Buch Amandas zu nennen, als wäre Mille lediglich eine Verlängerung der Mutter, ein Auswuchs, ein Anhängsel, und als Mille sechzehn war, ging sie in alle Bibliotheken von Oslo, lieh sich alle Exemplare des Buchs aus und gab sie nicht zurück.
Und sie erzählte niemandem davon, wie sie einmal im hohen Gras auf Vaters Arm gesessen hatte. Sie weiß noch, dass sie rannten. Sie erinnert sich an seinen Atem an ihrer Wange. Den großen Mund des Vaters, der flüsterte: »Wir müssen uns beeilen, Mille! Dreh dich nicht um!«
Milles Haare waren damals kurz, dunkel und lockig. Sie war zwei, vielleicht auch drei. Sie sei klein für ihr Alter, hieß es. Sie kann sich nicht erinnern, dass die Leute damals sagten, dass sie klein für ihr Alter sei, sie erinnert sich, dass sie es viel später sagten, als sie groß wurde: Du warst so klein und zierlich für dein Alter, wie ein Püppchen, und sieh dich jetzt an.
Sie weiß noch, dass ihr Vater, der Mikkel hieß, mit ihr auf dem Arm durch das hohe Gras rannte, und sie erinnert sich an das Gefühl, auf- und abzuhüpfen, auf und ab, sein heißer Atem an ihrer Wange.
Als Mille fünf war, konnte sie ihren Namen und Vornamen, die Namen ihrer Eltern, ihre Adresse und Telefonnummer singend vortragen. Ihre Mutter hatte ein Mille-Lied gedichtet, ein Lied, das alle notwendigen Angaben enthielt (Name, Adresse, Telefonnummer), das Mille singen konnte, für den Fall, dass sie verloren ging und fremde Hilfe brauchte. Dinge prägten sich leichter ein, wenn man sie singen konnte, meinte die Mutter, die stets Angst davor hatte, dass Mille sich verlaufen oder verschwinden könnte.
Und Mille war so klein (wie eine Puppe), viel kleiner als andere Mädchen im selben Alter. Doch dann wurde sie groß – es geschah ganz plötzlich, fast von einem Tag auf den anderen –, und ihr Körper entwickelte sich viel zu früh (sagten die Leute und legten das Gesicht in traurige Falten). Sie bekam Hüften, einen Bauch und Brüste, sie war gerade mal zehn, und da sagte die Mutter, sie müsse jetzt aufhören, das Mille-Lied zu singen.
Doch lange zuvor, lange bevor die Hüften, der Bauch und die Brüste hervordrängten, saß sie auf dem Arm des Vaters, er rannte durch das hohe Gras, und sie erinnerte sich an den heißen Atem an ihrer Wange und den großen Mund, der ihren Bauch gern mit Küssen kitzelte, bis sie vor Lachen jauchzte. Der große Mund flüsterte: Wir müssen uns beeilen, Mille. Wir müssen uns beeilen. Dreh dich nicht um. Auf und ab, auf und ab. Sie weiß noch, wie hoch das Gras war, wie groß die Baumwipfel
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