Das Verschwiegene: Roman (German Edition)
Ich bin jung. Meine Lippen sind jung. Meine Haut ist jung. Meine Hände sind jung. Niemand kann meine vielen gebrochenen Knochen sehen. Siri kann einem leidtun. Sie ist schief, sie hat ständig Schmerzen, und als sie ein Kind war, ist ihr kleiner Bruder in einem Waldsee ertrunken, während sie dabeistand und zusah.
Mille bewegte sich lautlos durch das Haus, schnappte hier und da etwas auf. Jon hatte erzählt, dass damals, als Siris kleiner Bruder vor mehr als dreißig Jahren starb, niemand mit Siri gesprochen hatte. Sie war sechs gewesen. Nicht einmal Jenny sprach mit ihr. Und Jenny war ihre Mutter.
Jon senkte die Stimme.
»Du weißt ja, was ich von Jenny halte.«
Aber – und das war die Geschichte, die Mille erzählt wurde – ein alter Mann namens Ola hatte für Siri ein Puppenhaus gezimmert, mit winzigen Möbeln und winzigen Püppchen, damit sie nicht die ganze Zeit an Syver denken musste.
Siri, dachte Mille. Siri war im Restaurant, Siri wollte nicht gestört werden, Siri klang immer (oder fast immer) verärgert, wenn Mille sie etwas fragte.
Jon klang nie verärgert, er wirkte im Gegenteil fast froh, wenn sie an die Tür seines Arbeitszimmers klopfte, um ihn etwas zu fragen. Er bat sie immer herein, fragte, ob sie nicht Platz nehmen wolle – dann unterhielten sie sich.
Mille kannte Jon erst seit wenigen Wochen, aber sie war sich sicher, dass zwischen ihnen etwas war. Etwas, das sich nicht in Worte fassen ließ.
D ie Wahrheit war, dass sie es nicht geschafft hatte, sich gegen ihn zu wehren.
Als sie ihn das erste Mal sah, stand er gaffend an der Ecke Akersgata und Karl Johans Gate. Es war das Jahr 1993, und Siri war fünfundzwanzig. Sie fragte sich, was er dort anstarrte, und sie hatte ausreichend Zeit, es herauszufinden, bevor er sie schließlich bemerkte.
Er war groß und dunkelhaarig und giacometti-dünn, trug abgewetzte Jeans, ein weißes Leinenhemd und einen flatternden Staubmantel. Er sah gut aus, wie sie fand, aber seine glänzenden, starren Augen hatten etwas Beunruhigendes.
Er stand ganz still und irgendwie unerschütterlich an seiner Ecke und erinnerte an die Statue von Haakon VII . ein paar Häuserblocks weiter, die sie jede Nacht auf dem Heimweg von der Arbeit grüßte.
Hier stand der Mann, den sie noch nicht kannte und der bald seinen Blick auf sie richten sollte: der flatternde Mantel, die Zeitung an die Brust gedrückt anstelle der Uniformmütze des Königs, eine ranke, schlanke, vom Wind zerzauste tapfere Säule von einem Mann.
Siri war auf dem Weg zur Arbeit, wieder mal eine Party für die Reichen, lauter Kunden, die gut zahlten und glaubten, wenn sie sich einen Wein für tausend Kronen bestellten, wäre das gleichbedeutend mit gutem Essen. Vor zwei Jahren war sie Küchenchefin in einem Restaurant im Frognerveien gewesen, das in Konkurs gegangen war. Jetzt betrieb sie ihre eigene Cateringfirma, Partyservice Iris, und hatte Zeit zum Nachdenken, ohne dass das Nachdenken zwangsläufig von Vorteil war. Siri hätte gern darauf verzichtet.
Oft wurde sie gefragt (von Leuten, die keine Ahnung von der Gastronomie hatten), ob sie deswegen eine Ausbildung zur Köchin gemacht habe, weil sie schon als Kind ein besonderes Talent für die Essenszubereitung gezeigt habe – so wie die kleine Ballerina, die durch das Wohnzimmer tanzt, während Eltern und Großeltern, Tanten und Onkel, die Nachbarn seufzen: Ja, dieses Kind werden wir bestimmt eines Tages auf der Bühne sehen. Nun. So war es nicht.
Wenn Siri überhaupt über ihre Berufswahl nachdachte, sah sie sich selbst als Handwerkerin, ganz wie der Vater, anders als die Mutter. Keine sinnlichen Esserlebnisse aus der Kindheit (abgesehen von den blubbernden Eintöpfen der Mutter auf dem Herd und den Schachteln Pistazieneis im Gefrierschrank).
Aber sie war gut, sie gehörte zu denen, die es schafften. Zunächst als Sous-Chefin, dann als Küchenchefin in diesem Restaurant im Frognerveien (und keine Zeit zum Nachdenken), und als sie gerade dabei war, richtig etwas auf die Beine zu stellen, ging das Restaurant in Konkurs. Und jetzt dieser bescheuerte Cateringservice, der zwar sofort zu einem wirtschaftlichen Erfolg geworden war und ihr Zeit zum »Leben und Genießen« ließ, der sich aber dennoch als unerträglich erwies. Das war das einzige Wort, das ihr dazu einfiel.
Männerabende, Hochzeiten, Betriebsfeten und Weihnachtsfeiern. Stinkreiche, die nach einem Château Pétrus aus Pomerol verlangten und glaubten, Siri damit weiche Knie zu bescheren.
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