Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Verschwiegene: Roman (German Edition)

Das Verschwiegene: Roman (German Edition)

Titel: Das Verschwiegene: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linn Ullmann
Vom Netzwerk:
das an ihnen vorbeiwirbelte.
    Sie wünschte sich, dass ihr Vater sagte: Wir bleiben jetzt einfach ein bisschen hier stehen und schauen zu, statt selbst zu laufen, es dauert seine Zeit, bis man Schlittschuh laufen kann. Das ist in Ordnung. Bleib einfach hier stehen.
    Der Schnee fiel dicht und sanft. Mille wünschte, sie könnte wie das Mädchen davonwirbeln. Seit neun Jahren bewegte sich Milles Körper über die Erde, klein für ihr Alter , aber niemals wirbelte er, und bald kamen der Bauch, die Hüften und die Brüste.
    »Es ist nicht normal, mit zehn Jahren so auszusehen«, flüsterte der Vater der Mutter zu.
    Doch die Mutter zuckte nur mit den Schultern.
    »Damit musst du leben«, sagte sie.
    Die Eltern glaubten immer noch, sie hörte ihnen nicht zu, auch wenn sie sich im selben Zimmer aufhielt.
    Mille stakste auf den Vater zu. Komm schon, Mille. Glaubte Mikkel womöglich, er könnte die Ausweitung ihres Körpers durch körperliche Aktivitäten aufhalten?
    Das Mädchen in dem schwarzen Mantel packte einen Knöchel und zog das Bein zu sich heran. Der schwarze Mantel fügte sich. Ihre Knochen fügten sich. Der Schnee fügte sich. Das Universum fügte sich. Das Mädchen wirbelte herum, schneller und schneller, und verwandelte sich vor Milles Augen in eine Rauchsäule.
    Wenn Mille die Augen schloss, bis drei zählte und sie wieder aufmachte, würde auch die Zeit davonwirbeln, und das Mädchen hätte sich in der Pirouette aufgelöst.
    Winter für Winter ging Mille mit ihrem Vater Schlittschuh laufen – und ab und zu blieben sie stehen und sahen dem Mädchen in dem schwarzen Mantel zu. Im Großen und Ganzen aber waren diese Sonntage ein ewiger Kampf gegen das Eis, den Körper und gegeneinander.
    »Komm schon, Mille, komm schon!«
    »Nein! Ich will nicht.«
    »Wag dich aufs Eis«, rief der Vater. »Schau nicht die ganze Zeit hinter dich! Dann verlierst du nur das Gleichgewicht und fällst hin.«

K annst du mal mit Liv nach draußen gehen und Blumen pflücken«, sagte Siri und zwirbelte ihre langen Haare zwischen den Fingern. »Ihr könnt auf die Wiese hinter dem Haus gehen.«
    Nein, Siri war nicht begeistert von Milles Einsatz als Kindermädchen. Mille merkte es. Siri konnte sich nicht einmal für das passende Wort entscheiden. Kindermädchen. Babysitterin. Aushilfe. Freundin der Familie. Alles klang falsch. Vor allem, weil Siri sich insgeheim nicht als eine Frau sah, die Hilfe nötig hatte. Zumindest nicht beim Betreuen der Kinder. Vielleicht glaubte Siri, Mille würde sie nicht sehen, aber Mille sah sie, sah die ganze Siri, auch wenn Siri nicht wusste, dass sie gesehen wurde.
    Mit Jon war es anders. Einmal küsste er sie auf die Wange. Sie glaubte zumindest, dass es ein Kuss war, es hatte sich so angefühlt.
    Es war in der ersten Juliwoche passiert. Sie wusste noch, wie sie an die Tür zu seinem Arbeitszimmer geklopft, den Kopf hineingesteckt und gefragt hatte: »Ist es okay, dass ich kurz zum Laden gehe und für Liv ein paar Zeitschriften kaufe, wo es so regnet?«
    Er hatte sich umgedreht und sie angeschaut.
    »Wo ist Liv?«
    »Sie ist im Garten. Sie will nicht hereinkommen, sie will im Regen herumtollen, und ich dachte, wir sollten uns mit etwas anderem beschäftigen, bis das Wetter besser wird. Sie ist schon triefnass und durchgefroren.«
    »Ihr könnt doch ein Buch lesen«, schlug Jon vor.
    »Ja«, kam es zögerlich. »Ich habe in dem großen Bücherregal im Nebengebäude geschaut, aber keine Kinderbücher gefunden.«
    »Wir können mal im Wohnzimmer schauen«, sagte er. »Dort stehen die Kinderbücher.«
    Er ging an ihr vorbei durch die schmale Tür, und genau in diesem Moment, in der Türöffnung, fast wie durch ein Versehen, streiften seine Lippen ihre Wange. Kein Wort. Kein Blick. Wie damals in der Küche, als er ihr durch die Haare fuhr.
    »Die Bücher stammen noch aus Siris und Syvers Kindheit«, sagte er.
    Nachdem sie die lange Treppe hinuntergegangen waren, zeigte er auf die Wohnzimmertür. Sie hatte damit gerechnet, dass er mitkam und ihr bei der Suche half, aber das hatte er wohl nicht vor.
    »Das unterste Regalbrett links«, sagte er. »Ich muss wieder an die Arbeit.«
    Er begann, die Treppe hinaufzusteigen, dann rief er ihr noch zu: »Und zieh Liv was Trockenes an.«
    Wenn Mille Siri anschaute, dachte sie: Siri wird langsam alt. Sie ist über vierzig. Mit ihrem Rücken stimmt etwas nicht, er ist schief, und sie hat oft Schmerzen, man muss sich fast ein wenig zur Seite neigen, wenn man mit ihr spricht.

Weitere Kostenlose Bücher