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Das Verschwiegene: Roman (German Edition)

Das Verschwiegene: Roman (German Edition)

Titel: Das Verschwiegene: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linn Ullmann
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fragte sich, warum sein Starren nicht funktionierte. Neun Schritte. Siri warf die Haare nach hinten. Zehn Schritte, elf Schritte. Jetzt ging sie an ihm vorbei. Zwölf Schritte. Jetzt war sie vorbei. Dreizehn Schritte. Und jetzt bist du Geschichte.
    Es hätte an dieser Stelle enden können, und alles wäre anders verlaufen, wäre Siri ihm nicht drei Wochen später auf dem Platz des 7. Juni, auf dem just die Statue von Haakon VII . in all ihrer Tapferkeit thronte, in einer Regennacht begegnet. Siri war auf dem Heimweg von der Arbeit, es regnete heftig, unter ihren Füßen gurgelte es, sie war völlig durchgefroren, der kalte Spätsommerregen kündete unerbittlich vom nahenden Herbst, obwohl es erst Ende August war. Und plötzlich stand er da, vor der Statue von König Haakon VII ., und sah überhaupt nicht wie König Haakon VII . aus. Den König selbst focht das Wetter nicht an. Er war tapfer und erhaben, da konnte es noch so sehr gießen. Doch Jon, von dem sie noch immer nicht wusste, dass er Jon hieß, war nass und kalt wie der große schwarze Hund, den sich der alte Ola zugelegt hatte, nachdem er Witwer geworden war.
    Siri sah ihn blinzelnd an, sie erkannte in ihm sofort den eitlen gutaussehenden Mann, den sie vor drei Wochen ignoriert hatte. Den sie durchschaut hatte als einen, der glaubte, alle Frauen zu sich heranstarren zu können, und der sie an die Statue erinnerte, vor der er nun stand. Wartete er auf sie? Siri glaubte nicht an schicksalhafte Zufälle, aber das hier war ein schicksalhafter Zufall. Dass sie ihm mitten in der Nacht mit König Haakon VII . als Zeugen über den Weg laufen sollte. Er konnte unmöglich wissen, dass sie an ebendiese Statue gedacht oder überhaupt an etwas gedacht, ja an ihn gedacht hatte (schließlich hatte sie ihn ignoriert), als sie ihn an der Ecke Akersgata und Karl Johans Gate gesehen hatte. Er konnte unmöglich wissen, dass sie jeden Abend nach der Arbeit diesen Weg nach Hause nahm. Sie war im Gegensatz zu der Blondine mit dem Elefantenrock keine Frau, die auf Tricks hereinfiel – nicht auf Anstarren, nicht auf abgedroschene Floskeln, nicht auf die Vorstellung schicksalhafter Begegnungen. (Allein schon das Wort – schicksalhaft –, nein, das war zu blöd.)
    »Hallo«, sagte er.
    Der Platz des 7. Juni war menschenleer. Es war fast drei Uhr nachts, und die Nächte waren nicht länger hell. Aber Siri hatte keine Angst. In Oslo hatte sie niemals Angst. Er musste schreien, damit sie ihn im Regen überhaupt hörte. Sie stand auf der anderen Seite der Statue.
    »Hallo«, sagte sie.
    Er kam einen Schritt näher, fing ihren Blick ein.
    »Habe ich Sie erschreckt?«, fragte er.
    »Nein«, sagte sie.
    Er zeigte auf sich, den triefnassen Staubmantel, der am Körper klebte, und sagte: »Seine Kleidung ist schmutzig, doch seine Hände sind rein, wenn Sie verstehen, was ich meine.«
    Sie verstand nicht, was er meinte. Und erst als sie längst verheiratet waren und Alma bekommen hatten, ging ihr auf, dass es sich um ein Bob-Dylan-Zitat gehandelt hatte.
    »Nicht schmutzig, sondern nass«, sagte sie. Siri neigte dazu, Dinge richtigzustellen, sie mussten korrekt sein, bei den Fakten durfte man nicht schludern, darauf verwendete sie viel Zeit, und darum korrigierte sie auch oft andere.
    »Ihre Kleidung ist ja nicht schmutzig, sie ist nass«, wiederholte sie und lächelte vorsichtig. »Das ist ein Unterschied.«
    Er sah sie an, fand ihren Blick und erwiderte ihr Lächeln, ging auf sie zu.
    »Triefnass!«, sagte er und berührte sie vorsichtig an der Wange, wischte einen Regentropfen ab, »Ihre aber auch.«

Z wei Jahre später, als Siri mit Jon verheiratet und mit Alma hochschwanger war, starb ihr Vater, Bo Anders Wallin. Sie packte eine Tasche und reiste von Mailund nach Slite auf Gotland, wo ihr Vater seit dem Tod des kleinen Syver 1974 mit Sofia gelebt hatte.
    Bo Anders Wallin hatte Jenny und Siri in den ersten Jahren ziemlich oft besucht. Geburtstage. Heiligabende. Einmal, es muss 1977 gewesen sein, hatte er ihr Geburtstagsgeschenk zu Hause vergessen, das er angeblich in einem Spielzeugladen in Stockholm gekauft hatte (Siri wurde neun), und um es wiedergutzumachen, ging er in die Küche, nahm eine Schere aus der Küchenschublade und zerschnitt seinen Staubmantel, so dass ein kleines Cape daraus wurde, das Siri überziehen konnte.
    »Bitte schön«, sagte er. »Siri Brodal Wallin! Das hier ist ein Unsichtbarkeitsmantel, von einem Zauberer aus Schweden bis hierher nach Mailund importiert. Wenn

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