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Das Verschwiegene: Roman (German Edition)

Das Verschwiegene: Roman (German Edition)

Titel: Das Verschwiegene: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linn Ullmann
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du ihn überziehst, kann dich keiner sehen, aber du siehst alle.«
    Jenny verdrehte die Augen und trippelte auf ihren kanariengelben hohen Absätzen herum. Sie hatte genug von Bo Anders. Aber er ging erst wieder, nachdem Siri eingeschlafen war, und sie erinnerte sich daran, dass er auf ihrer Bettkante saß und ihr erzählte, was sie am nächsten Tag nach dem Aufwachen mit ihrem Unsichtbarkeitsmantel alles machen könnte.
    Du kannst alle sehen, aber keiner sieht dich.
    Du kannst alle hören, aber keiner hört dich.
    Du kannst alle berühren, aber keiner berührt dich.
    Siri besaß drei Fotos von ihrem Vater.
    Das erste Foto, grobkörniges Schwarzweiß, war von ihnen beiden. Er liegt mit geschlossenen Augen auf dem Sofa, seine Haare sind kurz und braun und glänzend glatt (Pomade?), er hat einen Seitenscheitel, sein Hemd ist aufgeknöpft. Auf seinem Bauch liegt ein kleines Baby, blass und rund und warm wie eine frischgebackene Semmel. Siri ist kaum einen Monat alt. Sie schlafen beide.
    Als Jenny im Herbst 2010 starb (etwa zur selben Zeit, als drei kleine Jungen im Wald Milles sterbliche Überreste fanden), hinterließ sie Tagebücher, die aus Niederschriften im Telegrammstil bestanden. Im Oktober 1968, etwa zu der Zeit, als das Foto von Siri und Bo gemacht worden war, steht dort zu lesen: Ertrage das Geschrei nicht mehr, dafür bin ich nicht geschaffen, nie wieder, der Einzige, der sie zum Schweigen bringt, ist Bo Anders, er legt sie sich auf den Bauch, dann schlafen sie beide. Einen gesegneten Schlaf.
    Das zweite Foto ist von Bo Anders, Siri und Syver. Es ist das einzige Bild, das Siri von ihrem Vater mit beiden Kindern hat. Es stammt aus dem Jahr 1973. Ist ebenfalls schwarzweiß. Sie stehen nebeneinander im Hof vor Jennys Haus in Mailund, Bo Anders in der Mitte, Hand in Hand mit Syver, Siri steht ein Stückchen weiter weg – sie ist fünf und ganz ernst. Es ist Herbst. Alle tragen dicke Pullover. Sie wollen eine Waldwanderung machen. Syver hat die graue Strickmütze auf dem Kopf. Er ist drei und lacht von einem Ohr zum anderen. Die Aufnahme muss Jenny gemacht haben.
    Das dritte Foto ist von 1986. Der Vater hat darauf graue Haare und einen langen grauen Bart, der fast das ganze Gesicht bedeckt, er sitzt auf einer Bank im Garten vor dem Kalksteinhaus in Slite. In der Hand, die er der Fotografin hinstreckt, hält er ein paar Wiesenblumen, als wollte er sagen: Bitte schön! Die sind für dich! Sofia hat das Bild gemacht und Siri geschickt. Das Foto wurde mit einer Büroklammer an eine weiße Karte geheftet, auf der auf Schwedisch stand: Hallo Siri, ein kleiner Gruß von Deinem Papa, dem es gutgeht und der Dich vermisst! Herzlichen Glückwunsch zum achtzehnten Geburtstag!
    Siri hat sich immer gefragt, warum ihr der Vater nicht selbst geschrieben hat. Und warum schickte er (oder Sofia) ihr ein Bild, auf dem man sein Gesicht nicht erkennen konnte? Nur jede Menge Haare und ein Bart, der überall hervorquoll. Was wollte er ihr mit einem solchen Foto sagen? Und stimmte es, dass er sie vermisste?
    Jetzt war er im Alter von neunundsiebzig Jahren gestorben. Er starb in der Nacht auf den fünfzehnten Juni 1995, und Siri wurde gleich am Morgen informiert. Sofia rief an.
    »Ja, jetzt ist er tot«, sagte Sofia mit ihrer wohltönenden, fast fröhlichen Stimme.
    Viele Jahre später, mit rotgefleckten Wangen nach mehreren Gläsern Wein, versuchte Siri, Jon gegenüber den Tonfall von Sofias Stimme nachzuahmen. Es gelang ihr jedoch nicht. Es war, als wollte sie ein Lied singen, von dem sie geträumt hatte.
    Jon strich ihr über den Kopf.
    »Erklär es mir«, sagte er. »Was war das Besondere an der Art, wie sie es gesagt hat?«
    »Ich weiß es nicht«, sagte Siri. »Es war schön. Nicht das, was sie sagte, ich war ja trotz allem traurig, obwohl ich ihn nicht besonders gut kannte, es war der Klang ihrer Stimme. Wie ein Glockenspiel.«
    Siri wollte ihren Vater gern ein letztes Mal sehen. Ihn tot sehen. Einen Bogen schlagen zwischen dem Mann, der mit aufgeknöpftem Hemd und ihr auf dem Bauch auf dem Sofa schlief, und dem Mann, der tot im Bett lag.
    »Ich lasse ihn noch einen Tag hier liegen«, hatte Sofia mit ihrer Glockenspielstimme gesagt. »Aber dann kommen sie und nehmen ihn mit.«
    Siri hatte nicht gefragt, wer sie waren. Sie ging davon aus, dass es sich um die Mitarbeiter eines Bestattungsunternehmens von Gotland handelte und dass Sofia bereits mit ihnen gesprochen hatte, genau wie mit dem Arzt, der ihn für tot erklärt hatte, und

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