Das Verschwiegene: Roman (German Edition)
Unerträglich.
Ihre langen dunklen Haare waren zu einem strengen Pferdeschwanz gebunden, sie trug die hochhackigen korngelben Stiefeletten und den kurzen korngelben Herbstmantel mit einem Gürtel um die Taille, den sie von Jenny übernommen hatte, sie hatte einen leicht schiefen Rücken, der ihr ab und zu Schmerzen bereitete. Anderen fiel der schiefe Rücken nicht unbedingt auf, sie war eine Frau, die mit völlig anderen Dingen Aufmerksamkeit erregte.
Doch wenn Jon, der Jahr um Jahr die entsprechenden Stellen streichelte und zu glätten versuchte, etwas zu ihrem Rücken sagen sollte, würde er womöglich sagen: Eine leichte Verschiebung, ein kleiner graziöser Knick in der Taille – als hätte sie ein Rad geschlagen und sei, kurz bevor sie wieder aufrecht stand, in der Bewegung erstarrt, noch vor ihrer Vollendung festgefroren.
Sie hatte Jon zum Abendessen zu sich nach Hause eingeladen. Es war das erste Mal. Sie machte die letzte Dose Enten-Confit auf, die sie aus Frankreich mitgebracht hatte, kochte Kartoffeln und richtete einen grünen Salat her.
Doch vorher noch, bevor sie etwas für ihn kochte, bevor er den Staubmantel auszog und sich auf sie legte und so dünn war, dass sich seine Hüftknochen in sie bohrten, bevor er sie am nächsten Morgen weckte und flüsterte, dass sie sich in ihm festgesetzt habe, ging sie über die Akersgata, vorbei an den Zeitungshäusern von VG , Dagbladet und Aftenposten , die damals in einer Reihe standen, und erblickte den Mann, der sie an die Statue von Haakon VII . erinnerte und auf die Karl Johans Gate hinuntersah. Sie fragte sich, was genau er anstarrte, denn er rührte sich nicht vom Fleck. Er starrte unentwegt, beachtete Siri nicht.
Er stand auf der anderen Straßenseite, und sie folgte seinem Blick: Auf der Karl Johans Gate war weder ein kleines Raumschiff gelandet, noch standen das Schloss oder das Parlamentsgebäude in Flammen, kein Nobelpreisträger winkte vom Balkon des Grand Hotel, aber, und das ist wirklich wahr, vor der Bäckerei Samson auf dem Egertorget stand eine junge blonde Frau im kurzen engen Rock, schwarz mit kleinen weißen Elefanten darauf, und wankte gewissermaßen auf ihn zu.
So war es!
Er starrte eine Frau an. Ein junges, hübsches Exemplar. Mehr war es nicht.
Siri holte tief Luft und sah vom einen zur anderen. Es schien, als wollte er sie mit seinen Blicken zu sich herholen, was ganz offensichtlich funktionierte. Die junge blonde Frau streckte sich und wankte noch mehr.
Wenn der fremde Mann (der Siri an eine erstarrte, tapfere Steinsäule erinnerte) die junge Frau weiterhin so anstarrte und die junge Frau weiterhin so auf ihn zuwankte, würden sich demnächst die kleinen weißen Elefanten von ihrem Minirock losreißen und sich im Delirium donnernd auf ihn stürzen, dachte Siri.
Siri kann sich nicht erinnern, dass sie damals noch an etwas anderes als an die Elefanten dachte, die durch Oslos Straßen rennen würden, doch wenn sie ein paar Worte zu ihrem ersten Eindruck von Jon formulieren sollte, zu dem, was sie damals empfand (bevor er sie sah und bevor sie wusste, dass er Jon hieß), würde sie vielleicht sagen:
Unglaublich, dass eine Frau darauf hereinfällt. Unglaublich, dass eine Frau auf den ältesten Anmachetrick der Welt hereinfällt. Der Mann, der sie anschaut . Was glaubt sie denn? Dass er sie wirklich wahrnimmt? Dass er durch sie hindurchsieht? Dass er sie mit Blicken auszieht? Dass er sie unbedingt haben will, und dass dieses Handfeste (oder Blickfeste) nur eine Kostprobe dessen ist, was er ihr zeigen wird, wenn er sie für sich allein hat? Dass er, der große Verführer, schon begonnen hat, sie zu lieben, wie sie dort vor der Bäckerei Samson steht und schwankt?
»Dumme Frauen und eitle Männer«, pflegte Jenny zu sagen, als Siri klein war. »Und alle sind einsam und wollen Aufmerksamkeit wie kleine Kinder, die im Wohnzimmer heulend in der Ecke sitzen.«
Siri wollte diesem Mann, der offensichtlich glaubte, er könne jede x-beliebige Frau zu sich heranstarren, einen Denkzettel verpassen. Sie entfernte das Haargummi und löste ihre langen dunklen Haare. Sie setzte einen Fuß vor den anderen und überquerte die Straße, ging von ihrer Straßenecke zu seiner. Ein Schritt, zwei Schritte, drei Schritte. Die Blondine mit dem Elefantenrock war schon lange Geschichte. Vier Schritte, fünf Schritte, sechs Schritte. Jetzt hatte er sie bemerkt. Sieben Schritte, acht Schritte. Er starrte sie an. Jetzt hatte sie die Straße überquert, und er
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