Das Verschwiegene: Roman (German Edition)
dass sie abgemacht hatten, Bo Anders noch einen Tag im Bett liegen zu lassen, damit sie ( sein einziges noch lebendes Kind ) aus Norwegen anreisen und sich von ihm verabschieden konnte.
Die Reise war lang. Zunächst ging es mit dem Auto von Mailund nach Oslo, Jon fuhr sie. Er sagte, er würde sie begleiten, wäre für sie da, was wäre, wenn unterwegs die Wehen einsetzten, aber sie sagte nein. Das hier wollte sie allein machen, er hatte schon mehr als genug mit den letzten Korrekturen an seinem Erzählband zu tun, und wenn sie Wehen bekäme, dann würde sie es schon irgendwie schaffen, das Kind in Slite zur Welt zu bringen.
Weiter ging es mit dem Flieger von Fornebu nach Stockholm und mit einem weiteren Flieger von Stockholm nach Visby, anschließend folgte eine kurze Autofahrt von Visby nach Slite.
In dem voll besetzten kleinen Propellerflugzeug von Stockholm nach Visby saß sie neben einem Mann mittleren Alters, der sie, als das Flugzeug zum Himmel aufstieg, darauf aufmerksam machte, dass sie zu viel Platz beanspruche. Siri war im siebten Monat, und der Mann war der Ansicht, sie hätte zwei Sitze buchen müssen, ihr dicker Bauch nehme einen Teil seines Sitzes ein, für den er bezahlt habe, er könne sich nicht bewegen, seine Glieder nicht und auch nicht seinen Blick, ohne dass ihr Bauch im Weg war. Das sei unangenehm und ungerecht, sagte er und rief die Stewardess. Siri spürte, wie ihre Wangen brannten. Als die Stewardess kam, hatte sich der Mann noch weiter erregt, und die Worte drängten keuchend und prustend aus ihm heraus.
»Dick … viel zu dick … mein Platz … habe mir den Sitz nicht ausgesucht … kann mich nicht bewegen …«
Der Mann gestikulierte wild und schrie, wurde jedoch von den Propellern übertönt. Die Stewardess sah sich um – sollte sie den Kapitän holen? Die anderen Passagiere rutschten rastlos auf ihren Sitzen hin und her, und die Ostsee viele hundert Meter unter ihnen leuchtete grün.
Siri legte die Arme um den dicken Bauch, wiegte sich unmerklich vor und zurück und starrte auf die Sitztasche vor sich. Das Kind bewegte sich. Keine eifrigen leichten Tritte und Faustschläge. Dafür war es jetzt zu groß. Seine Bewegungen waren schwer und kräftig. Es war ein Mädchen. Aber Siri gelang es nicht, das Mädchen vor sich zu sehen. Hände, Füße, Bauch, Geschlecht, Knie. Haut. Alles winzig klein und perfekt, hoffte sie. Ein winziger fremder Körper und ein winziges fremdes Gesicht. Es gelang ihr nicht, das Mädchen vor sich zu sehen. Ein Kind. Ein Gesicht. Nachts träumte sie von Tieren – Katzen, Fröschen, Vögeln – und ausgemergelten Landschaften. Sie spürte, wie sich ihr Bauch wölbte, mal hier, mal dort.
Der Mann gab keine Ruhe, er verlangte einen ordentlichen Sitz mit Platz für seinen ganzen Körper. Die Stewardess lauschte hilflos, dachte vielleicht: Sage ich ihm, wie unmöglich er sich benimmt, mache ich die Situation noch schlimmer, beuge ich mich seinen Wünschen, gestehe ich ihm das Recht zu, sich so zu benehmen. Außerdem war das Flugzeug voll. Sie konnte ihn nirgendwo anders hinsetzen.
Der Mann beschwerte sich weiter. Siri wollte nur, dass er den Mund hielt. Halten Sie den Mund. Schluss jetzt. So geht es nicht weiter. Dann spürte sie, wie sich das Kind in ihr drehte, als wollte es sich um ihre Wirbelsäule winden. Siri schnappte nach Luft.
»Ich habe nicht genug Platz«, schrie der Mann und gestikulierte wild.
Siri packte ihn am Arm, drückte ihm die Lippen ans Ohr (sein Ohr: groß, hellrot und fleischig) und zischte: »Können Sie nicht einfach still sein!«
Der Mann entzog sich ihrem Griff und starrte sie an, ganz rot im Gesicht.
Siri besann sich, holte tief Luft und wiederholte, diesmal mit normaler Stimme: »Können Sie nicht einfach still sein!«
Der Mann machte den Mund auf und wieder zu.
Sie sagte: »Wissen Sie nicht, dass Sie mit Ihrem Verhalten die Geburt auslösen können?« Sie senkte die Stimme: »Das ist erwiesen.«
»Was ist erwiesen?«, flüsterte der Mann.
»Es ist erwiesen«, wiederholte Siri, »dass Sie mit Ihrem Verhalten die Geburt auslösen können. Dann muss ich das Kind hier zur Welt bringen, im Flieger, ein paar hundert Meter über dem Meer, neben Ihnen, und das wird nicht spurlos an Ihnen vorübergehen!«
Es war schon spät, als Siri endlich das Haus ihres Vaters erreichte, die rotglühende Sonne ging gerade unter. Sofia saß auf der Holzbank im Garten, unter einem Baum, stand aber auf, als sie Siri erblickte. Als Kind hatte Siri
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