Das Verschwiegene: Roman (German Edition)
Frauen, die Übelkeit, die viele von ihnen befiel, »morgendliche Übelkeit« zu nennen, als handelte es sich um ein kleines vorwitziges Unbehagen zum Frühstück. Viele erlebten es sicherlich so, Siri nicht. Bei ihr waren die Sinne angegriffen. Sie konnte nicht kochen. Sie ertrug den Geruch ihrer eigenen Küche nicht, sie musste sich wegen der Geruchsbelästigung bei der Arbeit krankmelden, sie konnte nicht mehr kochen, ohne sich zu erbrechen. Vor allem der Geruch von Kaffee, Heilbutt und Honig erfüllte sie mit Ekel, aber auch Knollengewächse, Fleisch (Rind, Schwein, Lamm und Hase) und natürlich Zwiebeln, Zitrone und alle möglichen Kräuter, vor allem Dill, den sie so liebte. Was wuchs da in ihr heran, das sie derart angriff, das sie mit Ekel und Scham und Furcht erfüllte? Sie versuchte, sich den Ekel und die Furcht im Tagebuch von der Seele zu schreiben. Es konnte für das Kind nicht gut sein (für das unschuldige Kind, das nicht darum gebeten hatte, auf die Welt zu kommen), dass sie sich so fühlte. Das Schwarzbuch, nannte sie es. Darin schrieb sie alles auf, was sie nicht sagen konnte. Alles, was sie nicht denken konnte.
Als die Übelkeit endlich nachließ – im siebten Monat –, vergrub sie das Schwarzbuch und die Schwangerschaftsbücher im Wald. Ihr Vater sagte immer, Rituale seien wichtig, und jetzt lag er dort im Bett mit einem Tuch um den Kopf. Die Bücher zu vergraben war ein Ritual. Bald würde sie den Vater begraben. Sie lachte leise. Das Meer war fast schwarz. Normalerweise zeichnete sich das Meer hier durch verschiedene Nuancen in Graugrün aus. Ganz anders als in Mailund. Und ohne Quallen. Sie ging ein paar Schritte ins Meer, legte sich ins Wasser und ließ sich von den sanften Abendwellen überspülen. Ihr Bauch ragte zum Himmel, rund und gelb, eine Anfrage an die Sterne, zu einem von ihnen zu werden. Das Kind rührte sich nicht. Sie schloss die Augen, alles war still.
A lma ging hinter Mille und Liv, und Mille hatte lange dunkle Haare, viel längere als Mama. Liv hüpfte durch die Gegend, war fröhlich und zufrieden. Heute war Jennys Geburtstag, und alle (außer Liv natürlich) waren ziemlich angespannt. Am Tag zuvor hatte Siri auf der Küchenablage ein langes dickes Haar gefunden, es Jon vor die Nase gehalten, als wäre es ein Regenwurm, eine Schnecke, eine Schnake, und geschrien, es reiche ihr jetzt. Überall sind Haare, sagte Siri. Im Bad. In der Küche. Im Essen. Jon bat sie, sich zu beruhigen, damit Mille sie nicht hörte, doch das machte Siri nur noch wütender.
»Ihre Haare in meinen«, schrie Siri und zog an ihren Haaren.
Alma saß am Küchentisch, trank Tee mit heißer Milch und hörte alles. Ihre Eltern merkten nicht, dass sie dort saß.
Jeden Abend kochte Siri Tee mit heißer Milch, damit Alma besser einschlief. Beruhigungstee. Damit sie zur Ruhe kam. Um den Schlaf anzulocken. Früher hatte sie Kakao bekommen, doch jetzt, wo sie größer war, bekam sie Tee.
Alma wachte ständig mitten in der Nacht auf und kam zu Siri und Jon ins Zimmer, obwohl sie zwölf war und dafür eigentlich zu alt. Nachts wollte sie nicht allein daliegen, auch wenn es eklig war, morgens in dem klammen Erwachsenenbett aufzuwachen. Zu Siris Worten aufzuwachen, die mit müder und etwas enttäuschter Stimme sagte: Jetzt musst du aufstehen, Alma. Zu dem kalten Licht der Deckenlampe aufzuwachen. Die Nacht war rund und sanft, die Haut der Mutter, ihre Küsse. In Ordnung, Alma. Du kannst ruhig bei mir schlafen. Der Morgen war kalt und klamm. Mama in der Nacht war eine Sache, Mama am Tag eine andere. Vielleicht ging es Mama genauso, dachte Alma. Eine Alma in der Nacht und eine Alma am Tag. Meistens wurde sie von Albträumen geweckt (daher der Beruhigungstee mit heißer Milch, an den Siri glaubte).
Das Einzige, was gegen Albträume half, war, sich in wachem Zustand ins Bett zu legen und alles einzeln durchzugehen, was sich im Schlaf zu einem Albtraum entwickeln könnte. Spanferkel, zum Beispiel. Alma hatte von ihnen geträumt. Und im Traum hatte ihre Mutter gelacht und die Zähne gebleckt. Der Vater auch. Wichtig war das Denken. Dann hatte man die Kontrolle. Dachte sie vor dem Einschlafen beispielsweise an Spanferkel, konnten sich die Spanferkel nicht in Träume verwandeln und in ihren Schlaf schmuggeln. Denken hieß, die Liste abhaken. Ich will nicht von Fleisch träumen. Will nicht von Seerosen träumen. Will nicht träumen, dass ich falle. Will nicht träumen, dass Mama, Papa, Liv und ich uns in einer großen
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