Das Verschwiegene: Roman (German Edition)
phantastisches Gebäude – ein Soria-Moria-Schloss, eine Pyramide, eine Burg. Doch jede Woche wurde es von innen angegriffen – von Ameisen, Bremsen, Zecken, Ratten und Schnaps, und wenn es einstürzte, musste alles, musste die ganze Jenny, wiederaufgebaut werden. Stein für Stein, Planke für Planke, Nagel für Nagel. Mal geschah es am Montag, mal am Samstag, mal am Dienstag, mal jeden Tag, mal in einer Woche überhaupt nicht, und das war besonders unheimlich – denn dann wartete Siri darauf, dass es passierte, und fürchtete sich davor. Oder noch schlimmer: Hin und wieder verging sehr viel Zeit – vergingen Wochen, vielleicht Monate –, bis Jenny wieder zusammenbrach, und dann konnte es vorkommen, dass Siri sich gehen ließ. Sie wurde nachlässig, redete zu laut, umarmte zu heftig, stürzte durch die Tür oder verschüttete etwas auf dem Boden.
War Jenny guter Laune (lange, ruhige Tage ohne Anzeichen innerlicher Angriffe), kochte sie großartige Mahlzeiten in der großzügigen Küche. Der Esstisch, der zwölf Personen Platz bot, wurde für zwei Personen mit edlem Porzellan und Kristallgläsern gedeckt, und sowohl Jenny als auch Siri zogen sich schicke Kleider und Lackschuhe an, trugen Lippenstift und L’Air du Temps auf, und der Gefrierschrank war gefüllt mit Eis (grünem Pistazieneis), von dem man sich zum Dessert mehrmals nachnehmen durfte, und Jenny kochte ihren speziellen Eintopf, der aus einer Dose hellem Labskaus, einer Dose Würstchen, einer Dose Spaghetti à la Capri und einer Dose Rentierfrikadellen in dicker brauner Soße bestand sowie aus jeder Menge Tomatenpüree, Maiskörnern, Lauch und einem Stückchen braunem Ziegenkäse für den Wildgeschmack, das Ganze mit einem Sträußchen Petersilie garniert.
Es war wichtig, nicht nachlässig zu werden. Aber Siri vergaß sich immer wieder. War nicht aufmerksam genug. Das war das Problem. Sie war nicht aufmerksam genug. Passte nicht auf.
Und Syver lag im Wasser, und Siri stand am Ufer, und Jenny machte die Tür weit auf und sah das dünne Mädchen, das draußen stand und tief Luft holte, fragend an.
»Siri, Schätzchen«, sagte Jenny, »was ist passiert? Was ist los mit dir?«
Und dann etwas leiser, aber ohne jede Spur von Unruhe: »Und wo hast du Syver gelassen?«
Siri schloss die Tür zum Zimmer ihres Vaters hinter sich und ging in den Garten. Sofia saß nach wie vor auf der Holzbank.
Die alte Frau drehte sich zu ihr um.
»Ist alles in Ordnung mit dir?«
»Ja«, antwortete Siri. »Ich gehe noch eine Runde baden, okay?«
»Das ist eine gute Idee. Du kannst nach der Reise bestimmt eine Erfrischung brauchen. Weißt du noch den Weg zum Strand?«
»Ja.«
»Wollen wir bei deiner Rückkehr eine Tasse Tee zusammen trinken?«
»Ja«, sagte Siri. »Das wäre schön«, fügte sie hinzu. »Vielen Dank.«
Es war windig, und es war spät. Der Strand war menschenleer, dennoch zog Siri sich hinter dem geschlossenen Kiosk um. Sie legte das Sommerkleid und die Unterhose auf einen kleinen Haufen und zog ihren gelben Badeanzug an. Dann schloss sie die Augen und legte eine Hand auf den Bauch. Keine Regung. Still und schwer und fremd. Sie versuchte, sich das Gesicht des Babys vorzustellen. Es war ein Mädchen. Siris Mädchen. Siris und Jons Mädchen. Meer, Teich, Gewässer, Fluss, Waldsee. Sie sah die Gesichter vor sich. Das des Babys, ihr eigenes, Syvers, Jons. Gesichter, so dicht an ihrem, dass sie sich in Flecken, Striche und Punkte auflösten. Unscharf, unwirklich. Hin und wieder träumte sie von ihnen, den Gesichtern, die zu neuen Gesichtern verschmolzen, darüber hatte sie in ihrem Tagebuch geschrieben, das sie damals führte, als ihr so übel war und sie nur noch sterben wollte, das sie führte, als der Fötus zwölf Wochen alt war und die Größe eines Süßwasserkrebses hatte, als das Gehirn wuchs und sich entwickelte und nachdem das Knochenmark, die Leber und die Milz mit der Produktion von Blutzellen begonnen hatten. Es gab keinen Weg zurück. Der Fötus wurde groß und mächtig. Ein anderer. Ein Fremder. Und doch in Siri drin, eine Verlängerung von Siri, ein weiches und dehnbares Fragment von Siri, ein Knäuel aus Adern, Wasser, Haut und Haaren. Wo begann der andere, und wo endete Siri? »Auch wenn Sie den Fötus nicht kennen«, stand in ihrem Schwangerschaftsbuch, das Siri in dieser Zeit immer wieder las, »wird der Fötus Sie kennen.« Sie hatte Angst. Ihr war übel. Ihr war so übel, dass sie sterben wollte. Es war eine Beleidigung schwangerer
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