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Das Verschwiegene: Roman (German Edition)

Das Verschwiegene: Roman (German Edition)

Titel: Das Verschwiegene: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linn Ullmann
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mehrere Sommermonate mit Sofia und ihrem Vater verbracht, doch das war lange her, und sie war von ihrem Anblick überrascht. Sofia, die Siri als zierlich und dunkelhaarig in Erinnerung hatte und die am Telefon so lebhaft geklungen hatte, war eine alte Frau mit matten, schwarzen Augen geworden.
    »Du liebe Güte«, sagte Sofia kraftlos und zeigte auf Siris Bauch. »Wir wussten nicht … dein Vater und ich wussten ja nicht … wann hast du Termin?«
    »Ich habe nicht die Zeit gefunden, es ihm zu schreiben«, antwortete Siri. »Ich habe Termin im August, am einundzwanzigsten, am zehnten habe ich selbst Geburtstag, vielleicht wird es ein Geburtstagskind im doppelten Sinne.« Sie legte sich eine Hand auf den Bauch. »Es ist ein Mädchen. Es soll Alma heißen.«
    Bo Anders Wallin lag auf dem Bett und war mit einem frischgebügelten Laken bedeckt. Auf dem Nachttisch stand eine brennende Kerze. Er war frisch gewaschen und rasiert und trug einen sauberen Flanellschlafanzug. Sofia (oder wer auch immer) hatte ein kariertes Tuch um seinen Kiefer gebunden und über dem Kopf verknotet. Das sah übel aus, fand Siri, wie sollte sie mit ihm reden, wenn seine gesamte Kinnpartie verschnürt war, und dann dieser komische Knoten auf dem Kopf, wie eine Haube, die verkehrt herum saß, die Absicht dahinter war wohl, dass er nicht mit offenem Mund daliegen sollte. Sie beugte sich über ihn, seine Augen waren geschlossen, er sah streng und unnahbar aus, nicht friedlich, nicht sanft, nicht mit seinem neuen Zustand versöhnt, eher feindlich, fand sie, vielleicht lag es an dem schmalen, leicht missbilligenden Mund – und natürlich an dem karierten Tuch, das fest um den Kopf gebunden war. Am liebsten hätte sie den Knoten gelöst, traute sich aber nicht.
    Sie setzte sich auf die Bettkante und sagte versuchsweise: »Papa.«
    Dann nahm sie seine Hand. Sie war kalt, die Haut porös. Siri hatte Angst davor, sie zu drücken.
    »Papa«, wiederholte sie.
    Siri begann zu weinen. Zugleich saß sie reglos auf der Bettkante und sah dem Ganzen zu. Sie weinte und weinte nicht. Diejenige, die nicht weinte, sagte sich, das hier ist Theater, du hast ihn vor langer Zeit abgeschrieben.
    Es geschah unmerklich, nahezu schmerzlos. Wie sie sich in zwei Teile teilte, bisweilen auch in vier. Als es das erste Mal passierte, war sie drei oder vier, und sie wusste noch, dass ihr schwindlig wurde – als hätte sie ein unsichtbares Gas eingeatmet. Als Syver verschwand und sie durch den Wald rannte, um ihn zu suchen, blieb ein Teil von ihr am See zurück (und verließ ihn nicht), und der andere ging nach Hause, um Hilfe zu holen.
    Ein Jahr bevor er ertrank, erzählte sie Syver, dass sie mehrere Geschwister habe. Sie war fünf, er war drei, und sie hatte gerade gelernt, ihren Namen zu schreiben. Vorwärts und rückwärts. Dabei hatte sie festgestellt, dass er rückwärts schöner war.
    »I-R-I-S«, sagte sie laut.
    Sie schaute ihren Vater an, der Zeitung las.
    »Was bedeutet Iris?«
    »Blumen«, antwortete er und sah auf, »die haben wir im Garten.«
    »Deine Augen«, fuhr er fort, »blau mit goldenen Flecken.«
    »Eine meiner Schwestern heißt Iris«, sagte sie zu Syver. Sie spielten draußen im Hof. »Manchmal ist sie unsichtbar und manchmal nicht.«
    »Du bist Siri«, brüllte Syver.
    »Manchmal bin ich Siri, und manchmal bin ich Iris«, sagte sie. »Und manchmal bin ich beide, und manchmal bin ich keine von beiden.«
    »Du bist Siri«, brüllte Syver noch einmal. Er zog sich die graue Mütze vom Kopf und baute sich vor ihr auf. Er versuchte, ihre Hand zu nehmen, aber sie schob ihn weg.
    »Du bist Siri!«
    »Ich lüge nicht«, sagte sie. »Es ist einfach so.«
    Es hatte mit ihrer Mutter zu tun. Es war eine Notwendigkeit, sich zu teilen. Mit der Zeit wurde es zur Gewohnheit. Ihr wurde nicht einmal mehr schwindlig. Das Gas brachte ihr Erleichterung, sie brauchte es bloß einzuatmen, dann konnte es seine Wirkung entfalten.
    Jennys Zorn war so groß und schwarz und nicht einzudämmen, wenn er angerollt kam, dass es am besten war, sich zu teilen und zu einem ganzen Heer zu werden. Zu einem Menschen, der Ausschau hielt. Einem anderen, der kämpfte. Einem, der weinte und um Gnade bat. Einem, der vernünftig war. Einem, der tanzte und Streiche beging. Einem, der um Entschuldigung bat. Einem, der ihr Obst und Trost und heißen Tee brachte. Einem, der versuchte, alles wieder hinzubiegen. Und einem, der davonlief, aber nicht sehr weit kam.
    Der Körper der Mutter war ein

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