Das Verschwiegene: Roman (German Edition)
aus, wie er dort auf dem Bett lag und an die Decke starrte oder auf dem Handy die Zeitung las oder in seinen eigenen Büchern blätterte.
»Liest du nur noch Bücher, die du selbst geschrieben hast?«, fragte sie.
»Lass mich in Ruhe, Siri, lass mich lesen, was ich will.«
»Wenn du etwas anderes lesen würdest, von einem anderen geschrieben, bekämst du vielleicht wieder Lust zu schreiben, oder?«
»Danke. Wollen wir einfach Folgendes abmachen: Ich gebe dir keine Ratschläge beim Kochen, und du gibst mir keine beim Schreiben. Okay?«
»Okay.«
Sie lauschte. Es war ganz still im Haus. Siri saß nach wie vor auf dem Fußboden im Gang. Sie hatte sich von dem Fest im Garten entfernt, lächelnd, prostend, die perfekte Gastgeberin, hatte die Tür hinter sich geschlossen und sich auf den Boden gesetzt. Sie sah sich um. Es war falsch, dieses Zimmer Gang zu nennen, sie hatten es immer Gang genannt, als sie hier aufwuchs – ich will im Gang nicht alles Mögliche herumliegen haben, Siri, hilf Syver, seine Sachen an ihren Platz zu räumen , es war aber eigentlich eine Diele. Eine große Diele. Mit hoher Decke, altem Holzfußboden, ohne Möbel, außer dem großen Schrank, in dem jede Menge alte Kleider hingen, unter anderem ein grüner Lodenmantel, der einmal ihrem Vater gehört hatte, und der Treppe natürlich, wie ein Thron mitten im Raum, die breite Treppe, die sich die Etagen hinaufwand. Im ersten Stock saß Jenny auf der Bettkante (vielleicht stand sie aber auch hinter dem Vorhang und schaute aus dem Fenster) und weigerte sich, zu ihrem eigenen Fest zu kommen. Vermutlich betrunken. Und Siri war gekommen, um die Sache in die Hand zu nehmen. Sie wollte die Sache in die Hand nehmen . Diesen Ausdruck hatte sie noch nie benutzt, und plötzlich war sie in dem langen blauen Seidenkleid und den hochhackigen Schuhen (die bei jedem Schritt in der Erde versanken, pitsch, patsch, pitsch) durch den Garten gestapft und hatte sich auf eine Weise benommen, die fremd anmutete, Worte und Formulierungen benutzt, die nicht zu ihr passten. Hin und wieder, in kurzen, panischen Momenten, sah sie sich selbst: wie sie durch den Garten stapfte und sich verstellte. Die Sache in die Hand nehmen. Die schrille Stimme. Als hätte sie etwas Altes, Harsches auf der Zunge, das sofort entfernt werden musste, auch wenn Gäste zugegen waren – zum Beispiel die Formulierung Ich muss die Sache in die Hand nehmen , auf einschmeichelnde, theatralische Weise geäußert –, und aus ihrem Mund holte sie ein großes glänzendes Insekt.
»Ja, jetzt ist es an der Zeit, dass ich die Sache in die Hand nehme«, sagte sie lächelnd zu der alten Frau Bente Strøksnes (die überall herumscharwenzelte und mit allen redete, dabei einen seltsamen grünen, zu kurzen Kaftan trug, der ihre alten, dünnen und bläulich schimmernden Beine voller Krampfadern noch betonte. Hatte Bente Strøksnes einfach nur die Hose vergessen?).
»Ja, jetzt nehme ich die Sache in die Hand«, sagte Siri. »Ich gehe sie holen. Natürlich soll Mama herunterkommen. Wir können nicht länger warten.«
Siri lauschte. Draußen im Garten nahm das Fest seinen Lauf, doch die schwere Haustür dämpfte die Geräusche. Die Stille im Haus war ohrenbetäubend, und das war seit Syvers Tod so gewesen. Siri hatte versucht, sie mit Geräuschen zu füllen, mit Geräuschen zu durchbohren, sie mit Geräuschen zu überwinden – zunächst mit ihren eigenen.
»MAAAAMAAAA!«
Als Kind hatte sie eine hohe, helle, durchdringende Stimme gehabt, aber sie hatte gelernt, sie zu kontrollieren.
»Bitte nicht diese Stimme, Siri!«
Doch ab und zu vergaß sie sich, schrie und sang und tanzte durch das Haus und machte alles kaputt.
Fuffzehn Mann auf des toten Manns Kiste,
Ho ho ho und ’ne Buddel mit Rum!
Fuffzehn Mann schrieb der Teufel auf die Liste,
Schnaps und Teufel brachten alle um!
Ja!
Und plötzlich zeigte sich dann Jenny auf der Treppe, irgendwo zwischen Erdgeschoss und erstem Stock, kreideweiß im Gesicht, mit rotem Mund, mit ihren langen prächtigen Haaren, den hochhackigen Schuhen, der kleinen, zierlichen Figur. Sie flüsterte: »Deine Stimme, Siri, kannst du damit nicht woandershin gehen? Bitte. Bitte! Ich ertrage das nicht.«
Ihr Nachbar Ola war der Einzige, der nach Syvers Tod mit Siri sprach. Ola und seine Frau, die Helga hieß. Ola und Helga hatten keine Kinder. Aber in gewisser Weise hatten sie Siri. Helga, die Anfang der Neunziger an Magenkrebs starb, war groß und rund und lieb gewesen. Ola war
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