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Das Verschwiegene: Roman (German Edition)

Das Verschwiegene: Roman (German Edition)

Titel: Das Verschwiegene: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linn Ullmann
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dünn und grau. Und zwischen sich, in sich drin, bei sich zu Hause, um sich herum hatten sie Siri, die sie eine Zeitlang wie eine eigene Tochter liebten. Wenn sie abends nach Hause gegangen war (denn Siri gehörte ja nicht ihnen, sie gehörte Jenny, und Jenny trank und schimpfte und hatte mehr als genug mit ihrer Trauer zu tun), redeten sie über sie, sorgten sich um sie, machten Pläne, was sie mit ihr unternehmen könnten, im Wald eine Hütte bauen, ins Kino gehen, sie wollte immer seine Bienenkörbe sehen, vielleicht konnten sie ihr die Verantwortung für einen der Körbe übertragen. Helga strickte einen Schal, Siri war immer so dünn angezogen, sie strickte einen Pullover. Und immer wenn Ola und Helga über sie sprachen, gaben sie ihr andere Namen, heimliche Namen, Kleine Mi, Kleine Mu, Kleine Mä.
    Siri dachte sich, dass sie abends über sie redeten. Sie war sich aber nicht sicher. Sie dachte sich, dass sie ihr heimlich Namen gaben und sich überlegten, was sie mit ihr zusammen unternehmen könnten. So musste es sein. Als sie den alten Ola heute Abend im Garten gesehen hatte, traurig und grau und hager und verloren und nicht mehr derselbe seit Helgas Tod, hatte er den Arm um sie gelegt und geflüstert: »Du schlägst dich bestens, Siri.«
    Ola war es gewesen, der für Siri ein Puppenhaus und Puppenmöbel gezimmert und die Puppen geschnitzt hatte. Ola war es gewesen, der Siri Seeräuberlieder beigebracht hatte, und es war Ola gewesen, der gesagt hatte – aber das hatte er nur ein einziges Mal gesagt, als er sie an einem Herbstabend nach Hause gebracht hatte: »Das mit Syver war nicht deine Schuld, Siri! In Ordnung? Es war eine schreckliche Sache. Aber es war nicht deine Schuld! Du bist ein Kind. Er war ein Kind. Es ist unerklärlich, aber es war nicht deine Schuld. Ihr wart zwei Kinder, die draußen gespielt haben.«
    Aber solche ernsten Momente waren die Ausnahmen. Siri erinnerte sich auch an andere.
    Helga lacht und flüstert: »Einen stattlichen Kerl habe ich da geheiratet, findest du nicht auch?«
    Und Ola steht auf und singt mit kräftiger Stimme:
    Und an diesem Mittag wird es still sein am Hafen
    Wenn man fragt, wer wohl sterben muss.
    Und dann werden Sie mich sagen hören: Alle!
    Und wenn dann der Kopf fällt, sag ich: Hoppla!
    Und das Schiff mit acht Segeln
    Und mit fünfzig Kanonen
    Wird entschwinden mit mir.
    Siri saß auf dem Fußboden, sah zur Treppe, die den Raum beherrschte, das hatte sie immer getan, sie zu betreten war immer gruselig gewesen, sowohl beim Hochgehen als auch beim Hinuntergehen, als wäre die Treppe hinter einem her, als könnte man sich mit ihr nie einig werden, als könnte sie jederzeit eine Stufe zu sich heranziehen oder eine andere vorschieben. Im Laufe der Jahre war die Treppe abgeschliffen, geölt und gestrichen worden, sie hatte einen Teppich bekommen und Stäbe und ein neues Geländer, der Teppich war durch einen anderen ersetzt worden, aber niemand im Haus wollte einen Teppich haben, ich mag keine Teppiche , sagte Jenny, und jetzt war die Treppe wieder abgeschliffen und gestrichen worden, sie war kobaltblau, wie schon vor langer Zeit, vor Siris Geburt. Sie hatte die Treppenstufen viele Male gezählt. Eine Stufe. Zwei Stufen. Drei Stufen. Vier Stufen. Bis sie bei neunundzwanzig angekommen war. Meistens kam sie bis neunundzwanzig. Manchmal kam sie bis achtundzwanzig, andere Male bis einunddreißig, einmal kam sie bis zweiunddreißig. Als Jon die Stufen zählte, kam er bis achtundzwanzig. Sie zählten immer wieder neu. Auch die Kinder. Es sind neunundzwanzig Stufen , sagte Alma. Es sind einhundertneunundzwanzigtausend Stufen , sagte Liv. Und noch vor wenigen Tagen, nicht lange nach dem großen Streit, hatten Jon und Siri sich bei den Händen genommen und waren gleich einem Brautpaar langsam die Treppe hochgestiegen, hatten zusammen die Stufen gezählt, eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben , sie waren bis neunundzwanzig gekommen, aber Jon beharrte darauf, dass sie sich verzählt hatten, dass er sie zu oft geküsst und keiner von ihnen das Zählen ernst genommen hatte, und darum wollte er es wiederholen, und dieses Mal sei es verboten zu reden, verboten zu lachen, verboten zu küssen, ob sie einverstanden sei, ja, das sei sie, also machten sie kehrt und gingen wieder nach unten, eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben, acht , doch als sie bei achtzehn ankamen, stolperte Siri und verdrehte sich den Knöchel. Es tat weh, wenn auch nicht sehr. Au!, sagte sie und

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