Das Verschwiegene: Roman (German Edition)
nicht aufrichten konnte, ob sie einen Hexenschuss hatte oder eine akute Depression, und er wollte schon zu ihr eilen und sie in den Arm nehmen und trösten, doch dann stand sie auf, zog an der Leine, warf die Tüte in den nächsten Abfalleimer und bog um die Ecke – halb ging, halb rannte sie, um mit einem keuchenden Leopold Schritt zu halten, der das Tempo bestimmte.
Leopold war des Hundes Rache am Menschen. Es ist demütigend, keine Kontrolle über einen Hund zu haben. Das verrät Schwäche. Mangelnde Willenskraft. Mangelnde Konzentration. Mangelnde Selbstdisziplin. Man ist faul. Faulheit. Eine Todsünde: Acedia (oder accidie oder accedie, vom Lateinischen aced ǐ a und vom griechischen ακηδία , das Nachlässigkeit, Gleichgültigkeit, Nonchalance, Achtlosigkeit bedeutet). Fast so wie ein Schriftsteller, der nicht schreibt. Aber ein Schriftsteller, der nicht schreibt, kann sich anders als ein Hundebesitzer, der keine Kontrolle über seinen Hund hat, hinter der Aussage verstecken, die Literatur braucht ihre Zeit , und sich sogar ein Gähnen erlauben oder ein verächtliches Schnauben über Kollegen, die jedes Jahr Bücher ausspucken. Er selbst hatte die Formulierung schon benutzt, als eine Journalistin fragte, warum der dritte Band so lange brauche. Schreibblockade? War vielleicht schon die Idee einer Trilogie ein Fehler gewesen? Die Journalistin, eine junge Praktikantin, hieß Marte. Sie studierte Literatur und hatte zwei Gedichtbände herausgegeben. Jon hatte vorab beschlossen, nicht mit ihr ins Bett zu gehen, sie war siebenundzwanzig und hatte milchweiße Beine und Tattoos (das wusste er, bevor er das Interview zugesagt hatte, jemand hatte es ihm erzählt, er wusste nicht mehr, wer), änderte seine Meinung aber, weil sie ihm während des Interviews unsäglich auf die Nerven ging.
»Eine Trilogie«, sagte Marte, »ist schon im Ausgangspunkt eine Konstruktion, etwas, das man im Voraus festlegt, bevor man die Bücher geschrieben hat, vielleicht sogar nur, um mehr Bücher zu verkaufen oder sich beim Buchclub anzubiedern, und somit ist die Idee einer Trilogie ursprünglich doch nicht literarisch motiviert, oder?«
Man kann unmöglich so tun, als geschähe gerade etwas anderes, wenn der Hund an der Leine zieht und das Tempo bestimmt und sich nicht setzt, wenn man »sitz« sagt, und nicht kommt, wenn man ihn ruft. Man hat ganz offensichtlich die Kontrolle verloren, ist seelisch nicht gefestigt. Odysseus hatte seinen Hund im Griff. Argos zog und zerrte nicht an der Leine, sondern wartete zwanzig Jahre lang geduldig auf seinen Besitzer, während Odysseus kämpfte und einen langen Krieg gewann und sich dann allmählich auf den Heimweg nach Ithaka machte. Homer, Shakespeare, Kafka, Pynchon, Jules Verne, Poe, Steinbeck. Überall Hunde. Literarische Hunde. Klick klick klick klick. Doch Jons Hund zog nur an der Leine und riss aus und war als literarischer Hund wenig geeignet. War überhaupt als Hund wenig geeignet. Jon setzte sich wieder und starrte auf den Bildschirm.
Hatte Charles Olson einen Hund? Das glaubte Jon nicht, Charles Olson konnte tun und lassen, was er wollte, er schrieb die ganze Nacht und schlief am Tag, er hielt sich nicht an Absprachen und ignorierte alles, was ihn von der Literatur abbringen konnte. Jon brauchte Zeit für sich allein, ja, ohne die alltäglichen Komplikationen und Unterbrechungen. Im Roman aufwachen, im Roman einschlafen, sich im Roman bewegen, im Roman essen, im Roman atmen. Sich einschließen. Ohne Unterbrechung. Viel Zeit. Und genug Wein. Wein im Überfluss. Schreiben, trinken, schlafen. Oder trinken, schlafen, schreiben. Gitarre spielen. Doch Siri fand, die Zeiten, in denen männliche Künstler es sich erlauben konnten, ihre Arbeit über alles andere zu stellen (Kinder, Familie, Hausarbeit, Finanzen), sei vorbei. Die Vorstellung vom »großen Künstler«, der sich für nichts anderes als sein Werk interessierte und der von seiner Umgebung Bewunderung und Respekt erwartete, gehörte laut Siri einem überholten Verständnis des Künstlerbegriffs an. Das sagte sie, nachdem sie sich über die begeisterte Aufnahme eines Enthüllungsbuchs geärgert hatte, in dem ein einundfünfzigjähriger Romanautor über die Notwendigkeit schrieb, seine Frau und seine vier Kinder zwei Jahre lang zu verlassen, damit er seine eigenen Lebensumstände untersuchen konnte – was sollte das heißen, verdammt noch mal?
Die Praktikantin Marte gehörte zu denen, die gejubelt hatten. Das Buch hatte sogar auf
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