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Das Verschwiegene: Roman (German Edition)

Das Verschwiegene: Roman (German Edition)

Titel: Das Verschwiegene: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linn Ullmann
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ihrem Nachttisch gelegen, was Jon störte. Sie hatte es »kompromisslos« und »herzergreifend« genannt und hatte mitnichten etwas gegen große männliche Künstlerseelen einzuwenden gehabt, ganz im Gegenteil, sie verehrte sie, besuchte sie, schrieb in der Zeitung über sie, und sie legte das Buch auf Jons nackte Brust, als wollte sie unterstreichen, wie wichtig es ihr war, dass er es mitnahm und las.
    »Vielleicht gibt es dir etwas«, sagte sie. »Inspiriert dich. Es ist wirklich …«
    Sie wickelte eine Haarlocke um den Finger.
    »Wirklich was?«, fragte Jon müde.
    »Kompromisslos«, sagte sie. »Es ist wirklich kompromisslos.«
    Jon antwortete nicht darauf, sondern setzte sich im Bett auf und sah sich nach seinen Kleidern um.
    »Ich habe ja verstanden«, sagte Marte und lehnte den Kopf an seinen Rücken, »dass es mit dem Schreiben bei dir im Moment nicht so gut läuft.«
    Hier saß er nun. Der Hund musste pissen. Liv rief: Papa, Papa, ich habe Muscheln für dich gesammelt. Und Almas FUCK YOU, MAMA . Ihm fiel – wohlwollend! – auf, dass seine Tochter im selben Atemzug fuck you und Mama sagte.
    Alma hatte der Lehrerin die Haare abgeschnitten. Jon versuchte das Bild einer geschorenen Lehrerin mit großer Nase und rotgeränderten Augen zu verdrängen. Warum? Sie fragten sie immer wieder, aber sie zuckte nur mit den Schultern oder sagte, mir war einfach danach; ich war es nicht allein, es war die ganze Klasse; ich weiß nicht, warum; ihre Haare waren schrecklich lang . Wo hatten sie Fehler gemacht? Wann war Alma zu einer Dreizehnjährigen geworden , die ihre Lehrerin angriff , wie es in der Zeitung geheißen hatte? Für die man kommunalfinanzierte Gesprächstermine einberufen musste? Bei Siri und Jon waren die Kinder immer am wichtigsten gewesen, Siri und Jon hatten sich nie in dunklen Schlafzimmern verbarrikadiert oder hinter der Zeitung versteckt. Sie hatten ihre Kinder geliebt. Sie vom ersten Tag an geliebt – auch schon lange vor dem ersten Tag. Jon hatte den Mund auf Siris dicken Bauch gelegt und – mit dem Geschmack ihrer Haut auf der Zunge – geflüstert, ich liebe dich, Alma. Zuerst Alma, dann Liv. Er hatte sie im Arm gehalten. Und mit ihnen über Richtig und Falsch gesprochen, über den Unterschied zwischen Notlügen und Zwecklügen.
    Sie hatten sich Zeit genommen. Sie hatten Prioritäten gesetzt.
    Mit ihnen gesprochen.
    Über die verschiedenen Absichten hinter den Lügen, eine Unterscheidung, die völlig in Ordnung ging, und was es bedeutet, seine Phantasie einzusetzen oder eine erbärmliche Lüge zu erzählen. ( 16.9.2008 Notiz für mich: Herman R.! )
    Jon fiel plötzlich ein Gespräch ein, das vor sechs Jahren stattgefunden hatte, kurz nach Erscheinen von Band zwei. Alma war sieben. Siri war schwanger. Damals wussten sie noch nicht, dass das Kind in ihrem Bauch Liv heißen würde. Sie saßen unter der blauen Küchenlampe, draußen schneite es, dicke weiße Schneeflocken fielen auf die raue steingraue Hauswand.
    »Phantasie«, sagte Siri, »bedeutet zum Beispiel, dass man gut darin ist, Geschichten zu erfinden, dass man Welten in sich trägt, die man bereisen und genießen kann, entweder allein oder mit anderen zusammen. Wenn Papa Bücher schreibt, erfindet er Geschichten, die andere lesen können, und … und … damit gehören diese Geschichten auch ihnen, genau wie Pippi oder Charlie und die Schokoladenfabrik deine Geschichten sind …«
    »Papa schreibt keine Bücher, er tut nur so«, fiel Alma ihr ins Wort.
    »Das stimmt nicht, Alma«, antwortete Siri. »Warum sagst du das? Papa hat gerade ein dickes Buch herausgebracht. Das weißt du doch.«
    Alma zuckte mit den Schultern und sagte: »Aber Astrid Lindgren hat doch Pippi geschrieben, nicht ich.«
    »Ja, natürlich, was willst du damit sagen?«
    »Du hast gesagt, dass Pippi und Charlie und die Schokoladenfabrik meine Geschichten sind.«
    »Ich meine nur«, sagte Siri, »dass Phantasie etwas Schönes ist«, sie legte eine Hand auf die Teetasse, »dass man seine Phantasie nicht unterdrücken soll, wie es so schön heißt, denn die Phantasie bietet uns die Möglichkeit, Geschichten zu erfinden und uns in Geschichten einzufühlen, uns in andere Menschen einzufühlen, in ihre Denkweise, ihr Gefühlsleben, auch wenn die Geschichten vielleicht nicht wahr sind, wir wissen ja, dass es keine Mädchen (oder Jungen!) gibt, die so stark sind, dass sie ein Pferd hochheben können, wir wissen , dass Roald Dahl seine Phantasie benutzt hat, um sich die

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