Das Verschwiegene: Roman (German Edition)
würdest du sagen, wenn ich dir erzählte, dass ich es weggeworfen habe? Dass ich gleich am Morgen in den Wald gegangen bin, zu dem grünen Teich, und Seite für Seite herausgerissen habe, dass ich jede Seite gefaltet und in kleine dünne Streifen gerissen habe, die ich dann ins Wasser warf?
Würde ich dich dann verlieren?
U nd wenn ich es so schreibe«, sagte Alma und schaute Jon an.
29.9.2008
Hallo, Frau Lund,
Entschuldigung für das, was passiert ist. Es war nicht so gemeint.
Freundliche Grüße
Alma Dreyer, 8b
Alma redete weder mit ihrer Mutter noch mit ihrer Schwester. Fuck, Fotze, Scheiße, wie bescheuert kann man nur sein . Alma pfiff auf all diese Menschen und all das Widerwärtige um sie herum.
»Versuch’s noch mal«, sagte Jon, und Alma schrieb:
29.9.2008
An Eva Lund
Ich bedaure den Vorfall zutiefst. Es war nicht so gemeint. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Herbst!
Freundliche Grüße von
Alma Dreyer
Alma ging zurzeit nicht zur Schule. War nicht erwünscht. Stattdessen musste sie zusammen mit Siri und Jon zu einer Psychologin gehen, wo sie von einer Polizistin verhört wurde, als wäre Norwegen ein verfluchtes Tyrannenreich . Die Polizistin und die Psychologin sahen fast gleich aus, wie Schwestern, beide hatten eine große Brille und lockige Haare, bebende Rotweinmünder und klamme Schulmilchblicke. Beide hatten verkniffene Gesichter, mit denen sie ihrer Sorge Ausdruck verliehen, und legten die Stirn in tiefe Falten, so dass man fast hineinkriechen und sich darin verstecken konnte. Die Psychologin trug eine weiße Bluse und hatte spitze Brüste.
Alma konnte die Fragen nicht beantworten, die meiste Zeit über sprach nämlich die Psychologin, doch Alma konnte ihre Fragen nicht beantworten, nicht etwa, weil sie nichts sagen wollte, nein, sie konnte es einfach nicht, sie konnte nicht erklären, was passiert war, und außerdem störten sie die Brüste.
»Warum hast du das getan, Alma?«
Was denn? Der Lehrerin die Haare abgeschnitten? Es war im Grunde ganz offensichtlich. Sie hatten es wochenlang geplant. Die ganze Klasse war daran beteiligt gewesen, nur dass Alma jetzt hier saß und alle Schuld auf sich nehmen musste, war ungerecht und unangemessen – wie alles andere auf dieser Welt. Sie sollte dreitausend Kronen bekommen. Keiner hatte es ihr zugetraut. Kein anderer hatte den Mut dazu gehabt. Aber alle wollten es. Es war nicht so, dass sie Eva Lund nicht mochten. Die Englischstunden waren eigentlich ganz okay. My name is Alma. I am thirteen years old, I live in Oslo, I attend a very nice Norwegian school, my hobbies are horseback riding and reading, my mother’s name is Mrs. Brodal, my father’s name is Mr. Dreyer. I am a very happy pupil.
Alma zuckte mit den Schultern und sagte: »Keine Ahnung!«
Die Brustwarzen der Psychologin waren ganz hart, wie Almas Brüste nach einem kalten Bad im Meer im Sommer in Mailund. Wie bei einem Fotomodell im Bikini. Und die Frau war bestimmt fünfzig. Es war verrückt. Ernst, ernsthaft, Ernsthaftigkeit. Ob Alma den Ernst begriff? Ob Alma selbst etwas sagen wollte? Die Brüste zeigten geradewegs auf sie.
Alma sagte: »Sollte man nicht einen BH tragen, wenn man Kinder verhört? Müsste es dafür nicht ein Gesetz geben oder so?«
29.9.2008
Dear Mrs. Lund,
I am very sorry that I cut off your hair.
Sincerely, Alma Dreyer
Alma würde nicht mehr in diese Schule zurückkehren. So viel stand fest. Sie war nicht mehr erwünscht. So viel stand fest. Alma und Jon und Siri würden für unabsehbare Zeit mit der Psychologin sprechen. Nicht jetzt, denn im Moment waren Herbstferien, und in den Herbstferien sollten alle die Zeit zum Nachdenken nutzen. So viel stand fest. Auch wollten sie nicht nach Mailund fahren. Mille verschwindet, alle sind ganz hysterisch, und plötzlich will niemand mehr nach Mailund. Alma will zu Jenny. Der einzige Mensch auf der Welt, mit dem man reden kann, ist Jenny. Nicht weil sie ihre Oma ist (sie ist nicht wie andere Großmütter – Jenny trägt hohe Absätze, verlässt nie ohne Lippenstift das Haus und nimmt die Leute ernst). Auch nicht, weil sie so alt ist (sie ist im Sommer fünfundsiebzig geworden, am selben Abend verschwand Mille). Sondern weil sie begreift , was Alma sagt und tut und meint, ohne eine Menge idiotischer Fragen zu stellen. Als Alma anrief und erzählte, sie habe der Lehrerin die langen Haare abgeschnitten, das würde vielleicht am nächsten Tag in der Zeitung stehen, sagte Jenny, sie könne verstehen , warum
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