Das Verschwiegene: Roman (German Edition)
(Jon wollte nicht über Mille reden), und dann würde sie auf dem Sofa zusammensacken (auf dem er geschlafen hatte, während er zu schreiben vorgab) und sagen, sie sei der Meinung, Jenny könne jetzt gut und gern sterben. Jenny, die niemals etwas ernst nahm, Jenny, die mit Alma besoffen im Auto gefahren war an jenem Tag, als Mille verschwand. O nein, Jenny Brodal hatte fast stolz gelächelt, als sie von der Haarschneideaktion gehört hatte, und Alma daraufhin erzählt, wie sie selbst als Dreizehnjährige etwas Unverzeihliches angestellt hatte. Wird sie jetzt senil, oder was?
»Und die Trinkerei«, sagte Siri. »Ich weiß nicht, ob sie jetzt rund um die Uhr betrunken ist oder was da unten gerade passiert. Immer, wenn ich anrufe, geht Irma ans Telefon und sagt, Mama schläft, ist draußen oder beschäftigt.«
Und Siri würde die Hände vors Gesicht schlagen und sagen: »Ich kann das nicht. Ich kann nicht. Ich kann nicht mehr.«
A ber was würdest du sagen, wenn ich dir erzählte, dass ich an jenem Morgen in ihrem Zimmer war und ihr Tagebuch mitgenommen habe? Ich weiß nicht, warum ich das getan habe. Ich weiß es wirklich nicht. Es war idiotisch. Sie hatte mir davon erzählt. Mille erzählte mir, dass sie ein heimliches Erinnerungsbuch führt – ja, so hat sie es genannt. Und ich hatte vermutlich Angst, darin würde etwas über … aber es war nichts. Ich habe sie nicht angerührt. Ein Kuss auf die Wange. Ein paar freundliche Worte. Sie hat sich bei uns nicht wohlgefühlt. Das weißt du ja. Sie tat mir leid. Du warst ständig wütend auf sie. Ich habe das Buch in die Hose gesteckt, unter meinen dicken Pullover, und mit nach oben genommen, das Licht über der Matratze angeknipst und es schnell durchgeblättert. Fotos. Zitate. Getrocknete Blumen. Grasbüschel.
Geborgener kann niemand sein
Als Gottes kleine Kinderschar
Am Himmel nicht die Sternelein
Im Neste nicht der kleine Star.
Weißt du noch, wie wir Liv und Alma dieses Lied vorgesungen haben, als sie klein waren?
Ich weiß, dass du nachts wachliegst und dich fragst, wo sie abgeblieben ist. Niemand verschwindet einfach, sagst du. Aber das passiert ständig. Ständig verschwinden Leute. Du bist verschwunden. Ich bin verschwunden. Wir sind voreinander verschwunden. Aber niemand verschwindet einfach, würdest du wiederholen, ziemlich genervt darüber, dass ich das Schreckliche, was mit Mille passiert war, reduzieren konnte auf etwas, das uns und unsere kleine private Hölle betraf.
»Ich spreche von Verschwinden im wörtlichen Sinne«, würdest du sagen. »Nicht im übertragenen.«
»Menschen verschwinden ständig, auch im wörtlichen Sinne«, würde ich antworten. »Das weißt du genau. Und eines Tages werden wir darüber sprechen.«
Ich blätterte das Tagebuch schnell durch. Ich spürte eine gewisse Erleichterung. Nichts über mich. Nichts über sie und mich. Nicht, dass es etwas zu schreiben gegeben hätte. Einen Kuss auf die Wange. Einen freundlichen Kuss auf die Wange. Das war alles. Aber man weiß ja nicht, was im Kopf anderer Menschen vor sich geht.
Wer jedoch in ihrem Tagebuch vorkam, warst du! Wusstest du, dass sie Fotos von dir gemacht und in ihr Buch eingeklebt hat? Unter anderem eine Serie Bilder, auf denen du im Garten von Mailund im Korbsessel liegst und schläfst.
Und dann waren da Bilder von den Kindern. Und vom Haus. Und eins von Irma hinter dem Nebengebäude, wo sie heimlich raucht. Mille hat sich ganz offensichtlich angeschlichen und versucht, Irma unbemerkt zu fotografieren (wie bei den Fotos von dir!), aber dann hat Irma sich genau in dem Moment umgedreht, in dem Mille abgedrückt hat. Irma wirkt stocksauer, und das Foto wird nicht besser davon, dass ihre Augen vom Blitz knallrot sind.
Und mehrere Psalmen, Zitate, der vollständige Text eines Dylan-Songs, den sie offensichtlich sehr gern mochte.
What’s a sweetheart like you doing in a dump like this?
Denkst du an ihre Mutter? An Amanda Browne? Was denkst du eigentlich, wenn du an Mille denkst? Ich würde dich gern fragen, aber ich will lieber nicht damit anfangen. Nicht jetzt. Das schaffe ich nicht. Aber ich denke an ihre Mutter, und ich sehe sie vor mir, ganz allein, Nacht für Nacht, wie sie von Zimmer zu Zimmer geht und ihre Trauer hinausschreit, und ich glaube, dass niemand sie zu trösten vermag.
»Wo hast du es denn hingetan«, würdest du mich fragen. »Was hast du mit ihrem Buch gemacht, Jon? Im Nebengebäude wurde kein Tagebuch gefunden, als die Polizei da war.«
Was
Weitere Kostenlose Bücher