Das Verschwiegene: Roman (German Edition)
Geschichte über Charlie auszudenken, und doch ist die Geschichte auf eine andere Weise auch wahr, und zwar in dir drin.«
Alma biss in ihr Brot, sah ihre Mutter an und sagte: »Das habe ich nicht verstanden, darüber reden wir jetzt nicht mehr.«
»Doch, das tun wir«, sagte Siri und sah Jon an, damit er ihr beisprang. »Ich würde gern noch etwas zum Lügen sagen«, fuhr sie fort, »ich glaube, wir lügen, um etwas zu erreichen, du erzählst eine unwahre Geschichte, weil du die Wahrheit nicht erzählen willst oder dich nicht traust oder weil du jemanden hereinlegen willst, es ist aber sehr wichtig, nicht zu lügen, deine Lügen werden zu einer Wand zwischen dir und anderen, ich glaube, wir verletzen andere, wenn wir lügen, und wir verletzen uns selbst …«
»Kann ich noch mehr heiße Schokolade haben«, fiel Alma ihr ins Wort.
»Es ist nicht ganz leicht, deinen Worten den Unterschied zwischen Lüge und Phantasie zu entnehmen«, murmelte Jon und sah zur Decke.
»Was hat Papa gesagt?«, fragte Alma.
»Papa hat nichts gesagt«, antwortete Siri. Sie nahm einen Schluck aus ihrer Teetasse und warf Jon einen wütenden Blick zu.
»Papa ist der Meinung, dass Mama das hier nicht besonders gut erklärt«, fuhr Siri fort, »vielleicht erklärt Papa es ja viel besser , auch wenn er jetzt nichts sagt. Also, Alma, wie du heute in der Schule gelogen hast, das ist nicht okay.«
Ausgangspunkt für das Gespräch, wie Jon sich erinnerte, war gewesen, dass Alma ihrer Lehrerin (einer reizenden, frisch examinierten Lehrerin, die Molly hieß) erzählt hatte, sie könne in der Pause nicht mit den anderen Kindern nach draußen gehen, sie sei traurig und müsse sich in Mollys Armen ausruhen.
»Du willst dich in meinen Armen ausruhen«, hatte Molly gesagt und womöglich etwas verlegen gelacht. (Wobei sie sich allmählich an die heftigen Liebeserklärungen der Kinder in ihrer Klasse gewöhnte, vor allem die der Mädchen, aber auch die der Jungen. Es war Mollys allererste Klasse.)
»Ich will mich in Ihren Armen ausruhen«, hatte Alma mit ernster Stimme erwidert.
»Bist du müde, Alma?«
»Nein, ich bin nicht müde. Aber Mama ist müde.« Alma senkte die Stimme: »Mama hat Krebs und wird sterben.«
»Was sagst du da, Alma?«, flüsterte die junge Molly.
»Mama hat Krebs, und sie muss bald sterben. Zuerst gehen ihr die Haare aus. Dann stirbt sie. Ganz bald, glaube ich. Darf ich mich jetzt in Ihren Armen ausruhen?«
Daraufhin hatte Alma die Arme um die Lehrerin geschlungen: »So! Ich will bei Ihnen sein! Verlassen Sie mich nicht!«
Und Jon erinnerte sich an Siris Stimme am selben Abend. Ihre Verzweiflung. Ihre Ermattung. Hatte der Zerfall schon damals begonnen? Lange bevor Jon aufgehört hatte zu schreiben, lange vor den Geldproblemen, lange vor Milles Verschwinden, lange bevor Jenny wieder zur Flasche gegriffen hatte?
»Woher weißt du denn, was Krebs ist?«, flüsterte Siri, als sie in der Küche unter der blauen Lampe saßen. »Ist jemand krank, den du kennst, eine Mama oder ein Papa?«
»Nö!«
»Aber warum hast du deiner Lehrerin erzählt, deine Mama hätte Krebs und müsste sterben?«, warf Jon ein.
Alma hatte gerade gelernt, mit den Schultern zu zucken. »Weiß nicht«, sagte sie.
»Ich habe keinen Krebs, verstehst du«, sagte Siri, »ich bin gesund wie ein Fisch im Wasser und werde nicht sterben. Nicht jetzt. Wir müssen alle sterben. Aber bis dahin ist noch viel Zeit und … und außerdem stirbt man nicht immer an Krebs.«
»Hast du Angst, Mama oder ich könnten sterben?«, fragte Jon. »Hast du deiner Lehrerin deshalb diese Geschichte erzählt, aus Angst?«
»Nö«, sagte Alma.
»Aber warum?«, fragte Siri.
Alma zuckte wieder mit den Schultern. Sie sagte: »Jetzt reden wir nicht mehr davon.«
Taps, taps, taps. Der Hund stand vor seiner Tür und wollte herein. Bald danach käme Siri. Dann Liv. Alma hatte sich in ihr Zimmer eingeschlossen oder war wieder nach draußen gegangen. Siri würde ihm erzählen, dass Alma FUCK YOU, MAMA geschrien hatte, sie würde sagen, dass ihr jeden Tag vor dem Aufwachen graute, sie würde sagen, dass sie es nicht fassen konnte, warum Alma eine Schere genommen und der Lehrerin die Haare abgeschnitten hatte, sie würde sagen, dass sie Angst vor weiteren Zeitungsartikeln hätte, zuerst Milles Verschwinden, dann Alma, die die Lehrerin attackierte, sie würde sagen, dass alles anfing, als Mille nach Mailund kam, all das Grau, all das zähe, verzweifelte Grau, das alles war Milles Schuld
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