Das Verschwiegene: Roman (German Edition)
Alma das getan habe.
»Manchmal kann man etwas einfach nicht lassen«, sagte sie.
Als Siri hörte, was Jenny gesagt hatte, war sie so aufgebracht, dass sie Jenny anrief und ins Telefon schrie, künftig solle sie sich aus Almas Erziehung heraushalten.
»Es ist immer besser liebe zu schreiben als hallo , wenn man einen ordentlichen Brief schreiben will«, sagte Jon. »So:«
Liebe Frau Lund,
»Hallo! Papa! Ich schreibe nicht liebe . Kein Mensch schreibt liebe . Wir leben doch nicht mehr im achtzehnten Jahrhundert!«
Als Alma Eva Lund das letzte Mal sah, starrte sie widerstrebend in den großen schreienden Mund der Lehrerin. Die verzerrten Lippen, die Zunge, die Zähne und das viele rosa Zahnfleisch, die Brotkrümel im Mundwinkel. Es war mehr ein Heulen als ein Schreien. Es dauerte nur wenige Sekunden. Dann ging die Hand vors Gesicht. Eva hörte auf zu schreien, starrte Alma an – ungläubig zunächst, als könnte sie nicht fassen, was sie gerade sah: die kleine dunkeläugige Alma mit einer Schere in der einen Hand und einem dicken blonden Zopf in der anderen. Dann kamen die Tränen. Eva Lunds Augen füllten sich mit zwei Seen, die ihr über das Gesicht liefen.
Nur warum? Es waren nicht die dreitausend Kronen. Auch nicht, dass alle sagten, sie würde sich nicht trauen, und sie es ihnen zeigen wollte. Es waren die langen Haare, stets zu einem langen blonden Zopf geflochten, der auf dem Rücken baumelte, und die Tatsache, dass es möglich war. Dass es schwindelerregend möglich war. Tag für Tag, Woche für Woche, Monat für Monat, Jahr für Jahr hatte sie dort im Klassenzimmer gesessen und Eva Lund und ihren langen Zopf angestarrt. Wenn sich Frau Lund zur Tafel drehte, konnte man schwerlich etwas anderes anschauen. Mal trug die Lehrerin ein Haargummi am Ende, mal ein blaues Seidenband. Wie lange würde es dauern, ihn abzuschneiden (eine Million, zwei Millionen, drei Millionen, vier Millionen, fünf Millionen)? Mit einer guten Schere höchstens fünf Sekunden. Sie musste es tun, wenn Eva so dastand, mit dem Rücken zur Klasse, und englische Vokabeln an die Tafel schrieb, my head, my face, my arms, my hands, my tummy, my legs, my feet, my body , sie musste sich heranschleichen, sie musste sie packen, nein, nicht sie, den Zopf, daran ziehen und schnipp, schnapp. Schwindelerregend, überwältigend, wunderbar möglich.
Als wäre alles allein Almas Schuld. Als wäre nicht die ganze Klasse beteiligt gewesen. Als hätte Theo nicht das Handy parat gehabt und das Ganze gefilmt. Als hätten Nora und Sofie die Bilder nicht am selben Tag ins Netz gestellt. Als hätte nicht die ganze Klasse mit ihr gewettet.
29.9.2008
Hallo, Frau Lund,
Entschuldigung für das, was ich getan habe. Ich hoffe, Ihre Haare wachsen bald wieder nach. So war es nicht gemeint. Es war nicht meine Idee. Sie sind eine unglaublich tolle Lehrerin. In Englisch wie auch in Norwegisch. Vor allem in Norwegisch. Es hat Spaß gemacht, als wir Kurzgeschichten schreiben durften. Ich bedauere das Vorgefallene erneut zutiefst. Weiterhin ein gutes Schuljahr!
Gruß Alma
»Verschone uns mit deinen Smileys«, sagte Siri. »Hast du den Ernst der Lage nicht verstanden, Alma? Was ist mit dir los?«
»Wir wollen die Herbstferien zum Nachdenken und Reden nutzen«, wiederholte Jon.
Nach dem Treffen mit den Psychologen-Polizistinnen-Schwestern war Siri wütend. Siri war wütend über Almas BH -Kommentar. Sie war wütend über die Sache mit Eva Lunds Zopf, und sie war wütend, weil Alma zu diesem fremden unbegreiflichen Kind geworden war. Letzteres hatte Alma mitgehört, als ihre Mutter es eines Abends zu ihrem Vater sagte, weil beide glaubten, sie würde schlafen. Die Mutter hatte geweint. Der Vater auch.
»So etwas Peinliches habe ich noch nie erlebt! So etwas Fürchterliches! Was ist mit dir los, Alma! Du bist so verdammt garstig.«
»Kannst du dich nicht darauf beschränken, immer nur auf eine Sache wütend zu sein«, sagte Alma ruhig.
Siri machte den Mund auf und schrie: »Ich bin wütend auf dich für ALLES , Alma! Was ist nur mit dir los?«
Und zum dritten Mal sagte Jon, sie sollten sich alle beruhigen und nachdenken. Daraufhin sagte Siri, Jon sei ein armer Tropf, der den Ernst der Lage nicht erkenne, und sollte er noch einmal das Wort nachdenken in den Mund nehmen, würde sie ihm eine Schuhsohle in die Fresse stopfen.
Alma hatte nicht die Absicht gehabt, garstig zu sein. Gern wäre sie artig gewesen. Die Worte waren ihr bei der Psychologin einfach
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