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Das Verschwiegene: Roman (German Edition)

Das Verschwiegene: Roman (German Edition)

Titel: Das Verschwiegene: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linn Ullmann
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mich nicht allein, halt mich fest, vergib mir, liebe mich, aber diese Sprache beherrschte sie nicht. Sie konnte nur weinen, obwohl sie wusste, dass es nicht half.)
    Jenny seufzte und sagte: »Es hat keinen Sinn. Ich ertrage das nicht. Hör auf zu weinen.«
    Sie kletterte aus dem Bett und nahm ihre Seidendeckenhaare, ihren Duft, ihre Wärme mit, vielleicht käme sie zurück, wenn Siri noch lauter weinte? Doch als Jenny nicht kam, schlug Siri die Augen auf. Jenny stand in der Tür und war schon halb in den meergrünen Morgenmantel geschlüpft. Ihre Augen waren ganz weiß. Nicht nur rund um die Pupillen, auch die Pupillen selbst. Weinend bettelte Siri darum, dass sie wieder zu ihr ins Bett kam, ihr vorlas, sie im Nacken kitzelte, sie sollte auf Siri hören und sie mit anderen Augen anschauen, nicht mit den weißen, sondern den blauen, und am Ende fiel Jenny der Tochter mit ihrer ruhigen Stimme ins Wort, der Stimme ohne Dunkelheit und ohne Licht, und sagte: »Jeden Abend weinst du, Siri, jeden Abend und fast jeden Morgen, das hier ist das siebzigtausendste Mal, dass du weinst, und ich kann mich nicht siebzigtausendmal darum scheren, geh und leg dich in dein eigenes Bett und lass mich in Ruhe.«

J eden Tag um Viertel vor eins hob Irma Jenny aus dem Bett. Ihr wurde das alte Nachthemd ausgezogen, der blauweiße Körper wurde mit einem warmen, nassen Lappen gewaschen, am Ende bekam sie ein frisches Nachthemd übergestreift. Dann hob Irma sie hoch und trug sie die Treppe hinunter, setzte sie in den Rollstuhl und schob sie in die Küche. Der Rollstuhl kam neben den Küchentisch, ein Teller mit einem Omelett wurde auf den Tisch gestellt. Stets dasselbe: Omelett, Ketchup und ein großes Glas Rotwein.
    »Omelett um eins«, sagte Jenny und grinste Siri an.
    Siri fuhr, so oft sie konnte, nach Mailund. Davon ließ sie sich nicht abhalten. Sie überließ Kajsa Tinnberg das Restaurant und fuhr die zwei Stunden von ihrem Reihenhaus in Oslo zum Haus der Mutter. Es war Frühling. Alma wurde bald fünfzehn, im Herbst käme Liv in die zweite Klasse. Es gab tausend Dinge, die Siri lieber machen würde oder sollte. Aber sie ließ sich nicht abhalten. Es war stets das Gleiche: Irma wollte sie nicht ins Haus lassen, und Siri schob sie beiseite. Von Irma würde sie sich das Haus nicht wegnehmen lassen. Mehrmals versuchte Siri, sich mit Irma gut zu stellen. Einmal backte sie Bananenmuffins, eine Brunchspezialität aus ihrem Oslo-Restaurant, und nahm sie mit nach Mailund. Und als Irma die Tür aufmachte, lächelte Siri und sagte: »Muffins für dich!«
    Als könnte das Wort Muffins alles in Ordnung bringen.
    Siri hielt Irma die Schachtel mit den Bananenmuffins hin, eine süßere Variante des Sweet Bee Banana Bread. Aber Irma sagte nur, das hätte sie sich schenken können.
    »Immer kommst du hier an und störst. Jenny will dich nicht sehen, und du weißt genau, warum.«
    Siri drückte ihr die Schachtel in die Hand und sagte: »Wie dem auch sei, ich habe sie für dich gebacken, und ich will ins Haus. Du kannst mich nicht aussperren.« Dann schob sie Irma beiseite und ging in die Küche.
    Jenny saß im Rollstuhl und aß, sie war bleich und dünn. Undeutliche, unzusammenhängende Wörter tropften aus ihrem Mund, und hin und wieder kamen Luftblasen heraus anstelle von Wörtern – als wäre sie unter Wasser, als spräche sie die Wassersprache, wäre endlich mit ihrem geliebten Kind vereint. Jenny sah ihre Tochter teilnahmslos an.
    »Bist du diejenige, die mir Syver bringt«, fragte sie.
    »Nein, Mama. Ich bin Siri«, sagte Siri und setzte sich an den Tisch.
    Jenny zuckte mit den Schultern.
    »Tja«, sagte sie, »bist du diejenige, die mich abholt, um mich ins Schloss zu bringen?«
    Siri begann zu lachen. Irma warf ihr einen bösen Blick zu. Siri sagte: »Was willst du denn im Schloss? Willst du deine Medaillen zurückgeben?«
    Jenny gab keine Antwort, sondern aß weiter ihr Omelett. Sie aß langsam und bekleckerte ihr Nachthemd. Nach einer Weile zeigte sie mit der Gabel auf Siri.
    »Willst du was abhaben?«
    Siri schüttelte den Kopf.
    »Ketchup«, sagte Jenny. »Kennst du Ketchup?« Sie kaute mit offenem Mund. »Ketchup schmeckt gut. Bist du sicher, dass du nichts abhaben willst?«
    Irma hatte sich mit einem Stuhl ans offene Fenster gesetzt. Sie zündete sich eine Zigarette an.
    »Du sollst hier im Haus nicht rauchen«, sagte Siri. »Du weißt, dass sie keinen Rauch verträgt. Wo sind deine Tabakkügelchen? Kannst du die nicht stattdessen unter die

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