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Das Verschwiegene: Roman (German Edition)

Das Verschwiegene: Roman (German Edition)

Titel: Das Verschwiegene: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linn Ullmann
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beiseite und ging in die Küche. Dort sank sie auf einen Stuhl.
    »Das hier ist mein Elternhaus, Irma. Sie ist meine Mutter.«
    Mitten auf dem Küchentisch stand ein hellrotes Babyfon. Es war eingeschaltet und knisterte. Siri zeigte darauf.
    »Was ist das?«
    »Das steht hier, damit ich sie höre«, antwortete Irma. »Wenn sie etwas braucht. Ich habe das Babyfon immer dabei.«
    Siri nickte.
    »Das Haus ist groß«, fügte Irma hinzu.
    Siri nickte erneut. Das Babyfon gab einen Heulton von sich. Es war Jenny, die schrie. Ein kraftloser Schrei.
    »Ich glaube, ich gehe mal zu ihr«, sagte Siri, »sie schreit ja.«
    »Sie gibt die ganze Zeit über Laute von sich«, sagte Irma. »Sie kriegt es nicht gebacken.«
    »Was kriegt sie nicht gebacken?«
    »Keine Ahnung. Aber egal, was es ist, sie kriegt es nicht gebacken. Das frustriert sie. Sie will aber nicht gestört werden. Und du gehst nicht nach oben. Sie will nicht …«
    Irma erhob sich vom Küchenstuhl.
    »Sie will dich nicht sehen, Siri! Ich habe ihr versprochen, dich von ihr fernzuhalten. Geh heim.«
    Irma stapfte die Treppe hinauf, Siri folgte ihr auf den Fersen. Die endlos lange Treppe. Irma drehte sich zu ihr um.
    »Geh heim, Siri. Du bist hier nicht erwünscht.«
    Irma öffnete die Tür zu Jennys Zimmer, und Siri konnte das Bett sehen, konnte ihre Mutter sehen, konnte das verblichene graue Haar auf dem Kopfkissen sehen, bevor die Tür vor ihr zufiel und der Schlüssel im Schloss umgedreht wurde. Siri blieb stehen. Sie hätte an die Tür hämmern sollen, sie hätte rufen und schreien sollen, aber sie tat es nicht.

S iri und Jenny saßen oder lagen in Jennys großem Doppelbett, und Jennys langes wallendes Haar (es war heller als Siris) umschloss sie beide wie eine Seidendecke. Jennys Stimme war dunkel und kühl, hin und wieder drangen Anflüge von Schläfrigkeit durch.
    »Oh, die Herzogin, die Herzogin! Oh, wie wüst wird sie sich aufführen, wenn ich sie warten lasse!«
    Jenny hatte weiche Haut, so weich, dass man sich fest an ihren Körper schmiegen und die Nase zwischen ihre Brüste schieben konnte, und wenn Siri so dalag, kitzelte Jenny sie hin und wieder im Nacken. Und sie roch gut. Das Parfüm hieß L’Air du Temps.
    »Aber wenn ich nicht mehr dieselbe bin, muss ich mich doch fragen: Wer in aller Welt bin ich denn dann? Ja, das ist das große Rätsel!«
    Manchmal durfte Siri ihre Haare kämmen. Und manchmal durfte sie den roten Lippenstift benutzen. Als Siri sieben war, bemalte sie sich einmal mit dem Lippenstift das ganze Gesicht, daraufhin lachte Jenny und bemalte sich ebenfalls das ganze Gesicht mit Lippenstift.
    Aber Jennys Stimme konnte sich rasch ändern. Sie lagen zusammen im Bett, Jenny las Siri etwas vor, doch plötzlich hörte sie auf zu lesen, sah vom Buch auf, als durchzuckte sie etwas. Ihre Stimme war immer noch dunkel und kühl, doch sie bekam zusätzlich noch etwas Kaltes und Strenges, das die Schläfrigkeit beiseitefegte.
    »Siri, du hörst nicht zu!« Sie knallte das Buch auf den Nachttisch und drehte sich zum Fenster. Draußen war es dunkel.
    Es ging so schnell, Siri war nie, nie, nie darauf vorbereitet, sie lernte niemals dazu. Dass Jenny plötzlich verschwinden konnte. Und die Mutter hatte ja auch recht. Siri hatte nicht zugehört. Würde Siri zuhören, wäre sie aufmerksam, dann würden die Leute nicht verschwinden. Aber Siri konnte niemanden festhalten. Syver nicht, und Jenny nicht. Für Jenny war es ganz schlimm, wenn Siri nicht zuhörte, und zur Strafe zog sie ihren Arm zurück, zog ihre Haut zurück, zog ihre Haare zurück. Dünn und merkwürdig verdreht blieb Siri in dem Doppelbett liegen, Hände und Füße schauten überall heraus, sie kniff die Augen zu. Öffnete sie die Augen, so würde das, was gerade geschah, Jennys Rückzug, real und unwiderruflich werden.
    Jenny sprach wieder zu ihr. Ihre Stimme war sanft, nicht drohend. Siri wusste, was kam.
    »Siri, kannst du mir sagen, was das Kaninchen zu Alice gesagt hat und was es damit zum Ausdruck bringen wollte?«
    »Ich erinnere mich nicht genau …«
    Siri kniff die Augen noch fester zu.
    Jennys Hand auf Siris Wange, eine kühle Hand.
    »Hast du nicht zugehört? Sieh mich an.«
    Siri schüttelte den Kopf, kniff die Augen zu.
    »Doch, ich habe zugehört.«
    Jenny zog die Hand zurück.
    » WAS HAT DAS VERDAMMTE KANINCHEN DANN GESAGT? «
    Siri begann zu weinen (Weinen half nicht, das wusste sie, und eigentlich wollte sie auch nicht weinen, sie wollte zu Jenny sagen: Bleib bei mir, lass

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