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Das Verschwiegene: Roman (German Edition)

Das Verschwiegene: Roman (German Edition)

Titel: Das Verschwiegene: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linn Ullmann
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Lippe schieben?«
    »Halt du dich da raus«, sagte Irma.
    »Unfassbar, dass ich fast hundert Jahre alt werden musste, um Ketchup kennenzulernen«, unterbrach Jenny die beiden. »Bist du ganz, ganz, ganz sicher, dass du nicht probieren willst?«
    »Nein danke«, sagte Siri. »Und du bist nicht fast hundert. Du bist siebenundsiebzig.«
    Jenny schüttelte den Kopf, dann ging sie plötzlich auf Siri los und schob ihr die Gabel mit dem Omelett und dem Ketchup in den Mund.
    Siri wich zurück. Die Gabel stach ihr in die Lippen, und sie hatte den ekelerregenden Geschmack von Blut, Eiern und Ketchup im Mund.
    »Lecker, nicht wahr?«, fragte Jenny. »Ich habe ja gesagt, dass es lecker schmeckt.«
    »Nein danke, Mama«, sagte Siri. »Ich will nichts davon haben.«
    »Hier ist noch mehr«, sagte Jenny und beugte sich wieder zu Siri hinüber, schob ihr einen weiteren Bissen in den Mund.
    Irma drückte ihre Zigarette im Aschenbecher aus und zündete sich eine neue an. Sie sah den beiden zu und lachte.
    »Und noch einmal«, sagte Jenny und sah ganz stolz zu Irma.

D as ist mein kleiner Bruder!«, sagte Siri zu der Frau hinter dem Tresen der Konditorei. Sie sagte es auch zu der Verkäuferin im Laden. Sie sagte es, so oft es ging. Kleiner Bruder. Mein kleiner Bruder. Und außerdem hielt sie ständig seine Hand, ganz fest, er beklagte sich, sagte, du drückst viel zu fest, Siri, das tut weh, und dann drückte sie seine Hand noch fester und sah auf seine große graue Mütze hinunter und lachte und sagte, da musst du durch, kleine Brüder müssen damit leben, dass große Schwestern ihre Hand fest drücken, aber ich lasse sie los, sobald wir sitzen und Kakao bekommen, ich kann deine Hand nicht halten, während du Kakao trinkst, und da lachte Syver und sagte, nein, Kakao trinken und sich bei den Händen halten, das geht nicht.
    Oft standen sie sich im Garten gegenüber. Obwohl Syver zwei Jahre jünger war als Siri, waren sie fast gleich groß.
    Syver zeigte auf Siris Kopf und sagte: »Dein Kopf.«
    Und Siri zeigte auf Syvers Nase und sagte: »Deine Nase.«
    Und Syver zeigte auf Siris Hals und sagte: »Dein Hals.«
    Und Siri zeigte auf Syvers Schlüsselbein und sagte: »Schlüsselbein.«
    »He?«
    »Dein Schlüsselbein«, wiederholte Siri. »Das heißt so. Das ist sozusagen der Schlüssel zu dir.«
    »Der Schlüssel wofür?«
    »Du weißt ja überhaupt nichts!«
    Sie zeigte erneut auf sein Schlüsselbein und sagte: »Schlüsselbein.«
    Und er zeigte auf ihre Brust und sagte: »Deine Brüste.«
    Siri rollte mit den Augen.
    »Ich bin sechs. Ich habe keine Brüste. Nur erwachsene Frauen haben Brüste.«
    »Okay«, sagte Syver und zeigte auf ihren Bauch. »Dein Bauch.«
    Siri bückte sich, zeigte auf sein Knie und sagte: »Dein Knie.«
    Und dann bückten sie sich beide, berührten sich gegenseitig an den Füßen und sagten im Chor: »Deine Füße!«
    Und entscheidend war, wie oft man es schaffte, ohne zu lachen.
    Mit Syvers Tod änderte sich alles. Es gab niemanden, mit dem sie dieses Spiel spielen konnte. Jenny trank, und Bo Anders Wallin zog nach Slite und eröffnete einen Steinmetzbetrieb. Es war an Siri, die Dinge in Schach zu halten. Sie wusste nicht genau, was das bedeutete – Dinge in Schach halten . Aber Ola hatte zu ihr gesagt, dass es jetzt an ihr sei, alles in Schach zu halten oder die Dinge in Schach zu halten , er sagte, das sei viel verlangt von einem kleinen Mädchen, doch Siri sei stark genug dafür. Siri freute sich, es klang sehr schön (auch wenn sie nicht ganz verstand, was es bedeutete), und Helga fand das auch, denn sie nickte vielsagend und strich Siri über den Kopf. Und wenn Siri zu Hause war, erinnerte sie sich daran, dass sie es war, die die Dinge in Schach hielt, und sie hörte zu und probierte Sachen aus, sah Jenny an und lernte, die Zeichen zu lesen: Wann es gut war, ihr schnell ein Glas Wasser zu bringen, und wann es besser war, sich fernzuhalten. Doch sie konnte noch so sehr zuhören und Sachen ausprobieren, aufpassen und sich teilen und die Dinge in Schach halten, sie konnte noch so gut lernen, die Zeichen zu lesen, es nützte nichts.
    Am Nachmittag saß sie in ihrem Zimmer, dem Zimmer, in dem Syver und sie gespielt hatten. Er wollte immer in ihrem Zimmer sein, mit ihr zusammen sein, und alle Spielsachen erinnerten an Syver, außer dem Puppenhaus und den Puppenmöbeln und den Puppen, die Ola für sie geschnitzt hatte. Das Einzige, was nicht an Syver erinnerte. Er wollte nicht mit Puppen spielen. Siri nahm all

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