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Das Verschwiegene: Roman (German Edition)

Das Verschwiegene: Roman (German Edition)

Titel: Das Verschwiegene: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Linn Ullmann
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angefaucht«, sagte Simen. »Ich habe ihr nichts getan. Bin nur um sie herumgefahren wie jetzt. Bin mit dem Fahrrad nicht mal in ihre Nähe gekommen, da hat sie plötzlich den Lenker gepackt und mich angefaucht.«
    Simen packte Jon fest am Arm, um ihm zu zeigen, wie es sich abgespielt hatte.
    Jon nickte bedächtig.
    »Ich meine, ich hätte vom Fahrrad fallen können«, sagte Simen.
    »Vielleicht hat sie sich erschreckt?«, sagte Jon. »Vielleicht dachte sie, du würdest sie umfahren?«
    Simen schüttelte den Kopf. »Nein, sie hatte keine große Angst.«
    Simen und das Fahrrad stiegen vorne leicht in die Höhe, vielleicht um Jons volle Aufmerksamkeit zu gewinnen.
    »Ist Ihnen aufgefallen, dass sie leuchtet«, sagte Simen.
    »Dass sie leuchtet«, sagte Jon. »Wie meinst du das?«
    »Dass sie im Dunkeln leuchtet«, sagte Simen. »Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll!«
    Er radelte einmal um Jon herum, ein perfekter Kreis.
    »Sie sind der Schriftsteller«, fügte er hinzu. »Sie können es erklären!«
    »Manchmal denke ich«, sagte Jon, »dass sie ein Engelsgesicht hat. Vielleicht liegt es daran, dass sie leuchtet, wenn sie denn leuchtet. Ich denke manchmal, dass sie wie der Erzengel Uriel auf dem Gemälde Die Madonna in der Felsengrotte von Leonardo da Vinci aussieht.«
    »Irma sieht nicht gerade wie ein Engel aus«, fiel Simen ihm ins Wort, sichtlich irritiert, dass Jon so etwas Abwegiges vorschlagen konnte. »Sie ist doch riesig. Sie ist bestimmt die größte Frau in Norwegen. Sie ist ja größer als Peter Crouch.«
    »Wer ist Peter Crouch?«, fragte Jon.
    Simen bremste abrupt ab und starrte Jon an.
    »Hatten Sie nicht gesagt, Sie sind Liverpool-Fan?«
    »Ich habe gesagt«, sagte Jon, »dass ich früher zu Liverpool gehalten habe, aber nicht mehr ganz auf dem Laufenden bin. Spielt Peter Crouch bei Liverpool?«
    »Nein«, sagte Simen und seufzte. »Er ist jetzt bei den Spurs, aber früher hat er für Liverpool gespielt. He’s big, he’s red, his feet stick out of the bed . Verstehen Sie?«
    Jon schüttelte den Kopf.
    »Er ist riesig. Genau wie Irma.«
    »Ja, das hast du schon gesagt«, sagte Jon. »Und ich gebe dir recht, sie ist sehr groß. Trotzdem bin ich der Meinung, dass sie ein Engelsgesicht hat und Engel nicht zwangsläufig klein und süß sein müssen. Wie die am Weihnachtsbaum. Was meinst du, Simen?«
    »Der Punkt ist ja«, warf Simen ein, »dass sie leuchtet. Und dass ich wissen wollte, ob Ihnen das aufgefallen ist.«
    »Dass sie irgendwie von innen heraus leuchtet, meinst du?«, fragte Jon unsicher.
    »Nein, das meine ich nicht«, sagte Simen. Er dachte einen Augenblick nach. »Sie leuchtet im Dunkeln. Das weiß ich. Ich habe es gesehen. Als hätte sie gerade einen Feuerschlucker verschluckt.«
    »Als hätte sie gerade einen Feuerschlucker verschluckt«, wiederholte Jon.
    »Ja, genau«, sagte Simen. »So war es, genau so.«

V
Omelett um eins

D er endgültige Alterungsprozess geschah rasch und effektiv. Wer hätte gedacht, dass die Buchhändlerin Jenny Brodal im besten Alter ihre Sprache und ihren Verstand verlieren würde?
    An einem Frühlingstag im Jahr 2010, fast zwei Jahre nach Milles Verschwinden, stürzte Jenny frühmorgens bei Glatteis (oder war sie nur betrunken?) auf dem Weg zum Friseur und brach sich die Hüfte. Wie eine x-beliebige alte Frau! Danach war sie an den Rollstuhl gefesselt und erzählte immer wieder dieselben Geschichten, die Leute kamen nicht mehr zu Besuch, und mit der Zeit riefen sie auch nicht mehr an. Am Ende verlor sie außerdem den Verstand und lag nur noch fabulierend auf dem Sofa. Sie sei nicht dement, sagte der Arzt, der Siri mit wenigen, mit Bedacht gewählten Worten zu erklären versuchte, warum ihre Mutter im Alter von fast siebenundsiebzig Jahren so geworden war, wie sie war. Jennys Zustand war die Folge vieler kleiner Schlaganfälle.
    Die Hünin Irma ernannte sich selbst zur Pflegerin bis zum Tode und fand es an der Zeit, die Tür zu schließen und alle auszusperren, auch Siri. Die Geschichte von Jenny Brodal, der hilflosen alten Schrulle, sei keine Geschichte, die weitererzählt werden müsse, sagte sie.
    »Gewisse Geschichten sollten geheim gehalten werden.«
    Siri stand im Garten und sah hoch zu dem weißen Haus. Der Ahornbaum im Hof wurde allmählich morsch, und bei jedem Sturm brachen Äste ab und fielen zu Boden.
    »Sie will dich hier nicht haben!«, sagte Irma. Dann noch einmal, etwas leiser. »Sie will dich hier nicht haben, Siri.«
    Siri schob Irma

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