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Das verschwundene Kind

Das verschwundene Kind

Titel: Das verschwundene Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Bezler
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aufgelöst und sie in eine gemeinsame Nacht gleiten lassen, deren Nachwirkungen Maren noch jetzt voller Behagen spürte. Sie rutschte unruhig auf dem Stuhl hin und her. Ich hab schon wieder Lust, registrierte sie und fragte sich, wie sie es die letzten Jahre ohne Sex ausgehalten hatte. Falsche Frage, korrigierte sie sich in Gedanken. Sie hatte kaum ein Bedürfnis verspürt. Sich selbst und allen, die es hören wollten, hatte sie versichert, es ginge ihr gut, sie fühle sich frei und hatte bestimmte Bereiche einfach ausgeklammert, weggeschlossen. Das war von jeher ihre Strategie zur Bewältigung schwieriger Situationen gewesen. Jetzt wollte sie das ändern.
    »Ich muss viel offensiver werden und das Leben so richtig bei den Hörnern packen«, erklärte Maren plötzlich.
    »Eigentlich hatte ich ja nach deinen Ohrsteckern gefragt«, entgegnete Sybille. »Das sind doch echte Brillis, oder?«
    Maren nickte und schnitt ein Brötchen auf. »Die liegen irgendwo drüben im Wohnzimmer.«
    Sybille gab sich nicht zufrieden. »Sind die Ohrringe ein Geschenk von Rolf?«
    Maren schüttelte den Kopf und dachte daran, dass das vielleicht auch der Grund war, warum Lars sie gestern Abend gebeten hatte, den Schmuck abzulegen. Na, das konnte ja noch heiter werden mit ihm.
    »Die Ohrringe habe ich schon sehr lange. Sie sind für mich eine Art Unabhängigkeitssymbol. Meine Eltern gaben mir seinerzeit dreitausend Mark, damit ich mir in Frankfurt mein Studentenzimmer ein bisschen einrichten und wichtige Bücher zulegen konnte. Und dann lief ich über die Zeil und ließ diese Großstadt auf mich wirken, die mein neues Territorium werden sollte, in dem ich mich frei und fern von jedem elterlichen Einfluss bewegen konnte. Es war berauschend, plötzlich ganz und gar Herrin meiner Entscheidungen zu sein. Du weißt ja, wie streng meine Eltern mich erzogen haben, wie behütet ich aufwuchs. Im Bravsein hätte ich damals die Goldmedaille verdient. Und dann stand ich auf einmal vor dem Schaufenster des Juweliers und hatte dieses Geld in der Tasche, das mir meine Eltern einerseits zur freien Verfügung überlassen hatten, dessen Verwendungszweck sie aber letztendlich klar definiert hatten. Und anstatt mein Startkapital entsprechend ihren Wünschen einzusetzen, ging ich plötzlich in den Laden und kaufte diese Brillantohrstecker. Der Rest reichte gerade noch für einen Hamburger.«
    Sybille prustete los. »Das hätte ich dir nicht zugetraut! Warum hast du mir das noch nie erzählt?«
    Maren bestrich sich ihr Brötchen dick mit Haselnusscreme, was Sybille neidvoll beobachtete, und antwortete nachdenklich: »Weil ich im Grunde wohl immer noch denke, dass es sich nicht gehört, einfach mal das zu machen, wonach mir der Sinn steht. Oft beobachte ich mich dabei, wie die Schere in meinem Kopf mich auf das brave Mädchen zurückstutzt. Bloß nicht laut werden und die Dinge selbst in die Hand nehmen! Ich warte artig, bis ich an der Reihe bin.«
    »Damit hast du dich eben ganz gut beschrieben. Und wie oft habe ich dir schon gesagt, dass du von dir aus in die Gänge kommen musst, nicht erst, wenn dich jemand dazu antreibt. Obwohl – seit du hier wohnst, habe ich wirklich das Gefühl, dass du auf dem Weg der Besserung bist!«
    Maren biss in ihr Brötchen und kaute genüsslich. »Als ich damals Rolf kennenlernte, war das der totale Rückfall. Es hätte mich stutzig machen müssen, wie begeistert meine Eltern von diesem ehrgeizigen BWL -Studenten waren. Im Grunde hat Rolf in mir einfach die alten Programme aufgerufen, und ich fiel bereitwillig wieder in die gelernten Verhaltensmuster zurück, weil sie bekanntes Terrain für mich waren und mir Sicherheit boten. Beruflich durchlebte ich damals eine heftige Krise. Den Arbeitsalltag als Lehrerin hatte ich mir ganz anders vorgestellt. Es war die Hölle, als junge Referendarin vor diesen überfüllten Klassen und den pubertierenden Jugendlichen zu stehen. Vor den Unterrichtsbesuchen der Ausbilder habe ich nächtelang kein Auge zugetan. Das zweite Staatsexamen habe ich dann nur noch als Pflichtübung absolviert. Mit Note Vier bestanden, also gerade so. Julia war damals schon unterwegs, und ich wusste, dass ich mittelfristig eine andere Berufung hatte. Nichts wie weg von der Schule, hinein ins Ehe- und Familienglück. Aus der braven Tochter wurde eine brave Ehefrau und Mutter. Heute kann ich das nicht mehr verstehen. Wenn ich Rolf beobachte, wie er agiert, fällt mir immer wieder auf, wie sehr er mich an meinen Vater

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