Das verschwundene Kind
rann Speichel. Sie wollte nicht mehr in diese schreckliche Fratze schauen. Sie wälzte den Körper herum und spürte, dass er sich steif anfühlte wie eine mit Sägemehl gefüllte Puppe. Da verstand sie endlich. Mädchen, flüsterte sie, mein kleines Mädchen, wer hat dir das angetan? Oder hatte sie sich gar selbst umgebracht? Ein lebenslustiges Gesicht erschien vor ihr mit vor Zuversicht funkelnden Augen. Alles wird jetzt besser, hatte sie gesagt. Die Hand der Fatima hat mich beschützt und mir Glück gebracht. Ich werde leben, endlich frei leben ohne Angst. Nein, sie hatte das nicht selbst getan. Da gab es jemanden, einen dunklen Schatten, der sie verfolgte und bedrohte. Sie hatte nicht darüber gesprochen, aber es war zu spüren gewesen. Jetzt hatte er zugeschlagen. Panik ergriff sie. Am Ende war er noch hier, lauerte irgendwo, vielleicht dort in dem großen, finsteren Ungetüm von Schrank. Der war leer. Das wusste sie. Ausgeräumt, fertig zum Abholen. Angstvoll hatte sie sich umgeblickt. Dann hatte sie das Kind gegriffen und war geflohen. Am nächsten Tag war sie gekommen, um ihre Jacke zu holen. Doch der Unbekannte war im Badezimmer gewesen. Bei der Flucht hatte sie das Schlüsselbrett abgeräumt, in der Hoffnung, dass ihr eigener Schlüssel dabei wäre. Zu Hause hatte sie dann festgestellt, dass sie nur fremde, ihr unbekannte Schlüssel mitgenommen hatte. Ihr Schlüssel, den sie Hatice für alle Fälle überlassen hatte, musste noch irgendwo hier in dieser Wohnung sein. Sie würde es nicht fertigbringen, noch einmal alle Räume zu betreten und zu durchsuchen. Eigentlich war es ja auch unwahrscheinlich, dass man die Wohnung eines Menschen anhand eines Schlüsselbundes ausfindig machen konnte. Es sei denn, Hatice hatte den Schlüssel zur Kennzeichnung mit ihrem Namen versehen. Hatte sie das? Das wäre leichtsinnig gewesen. So war Hatice nicht. Im Gegenteil, sie war immer auf der Hut gewesen, immer misstrauisch – aus gutem Grund. Letztlich hatte es ihr nichts genützt. Sie wandte sich wieder zur Tür. Ihr Blick fiel auf das leere Schlüsselbord. Sie würde die Schlüssel, mit denen sie nichts anfangen konnte, wieder an ihren Platz hängen. Auch den Schlüssel, den sie zu dieser Wohnung hatte, würde sie dazuhängen. Sie wollte ja nicht wiederkommen. Sie lauschte nach draußen. Sachte schlüpfte sie durch die Tür und ließ sie lautlos ins Schloss gleiten. Sie band sich ein Tuch um den Kopf. Auf diese Weise wurde sie wie üblich für die Nachbarn unsichtbar.
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Freitag, der 12. Oktober
S ybille warf zwei Süßstofftabletten in ihren Kaffee und rührte eifrig. Maren saß ihr gegenüber am Küchentisch, in weitem T-Shirt und Leggins, und beobachtete ihre Freundin amüsiert, während sie sich die Hände an ihrem Kaffeebecher wärmte.
»Ich kriege ihn ohne Milch und Zucker nicht herunter«, erklärte Sybille und seufzte. »Du hast es gut, dir schmeckt der Kaffee schwarz, und deshalb schaffst du es auch, so schlank zu bleiben. Du hast hunderttausend Gründe, kalorienarm zu leben, weil dir das ganze bittere, saure, magere Zeug auch noch schmeckt.«
Maren blickte kurz zum Küchenfenster, durch das die späte Vormittagssonne hereinschien. Sie hob die Schultern und spannte die Rückenmuskulatur an. Sybille, die immer noch in ihrem Kaffee rührte, bemerkte nicht, wie zufrieden und genussvoll sich ihre Freundin räkelte. Maren dachte an den gestrigen Abend im »Basilikum«, die üppige Fischplatte für zwei, das Tiramisu. Sie sah das Prosecco-Glas in Lars’ Händen und prostete ihm in Gedanken noch einmal zu. Sie spürte wieder, wie diese Hände ihr später sanft die Haare aus dem Gesicht strichen. Sybille war aufmerksam geworden. Sie beobachtete Maren, die ihr wirres Haar hinter die Ohren schob.
»Wo hast du eigentlich deine Ohrstecker? Hoffentlich nicht verloren?«, fragte Sybille, woraufhin Maren nur albern gluckste. Vor ihrem inneren Auge spielte sich die Situation von gestern Abend noch einmal ab. Lars hatte neben ihr auf der Couch gesessen und plötzlich wie gebannt auf ihre Ohrringe gestarrt.
»Was ist?«, hatte sie rasch gefragt und schon angefangen, sich ein wenig um den weiteren Verlauf des Abends zu sorgen. Sie wusste noch von früher, wie schnell Lars sich plötzlich in eisiges, undurchdringliches Schweigen hüllen konnte.
»Könntest du die Ohrringe bitte ablegen?«, hatte er sie zu ihrem Erstaunen gebeten.
»Nur die Ohrringe?«, hatte sie gefragt, und die Situation hatte sich in Lachen
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