Das verschwundene Kind
waren jetzt leise Schritte auf den Dielen zu hören. Die Klospülung lief. Von diesem Rauschen war sie aufgewacht! So musste es gewesen sein! Sie richtete sich auf. Welcher Einbrecher benutzte als Erstes die Toilette in einer Wohnung? Maren fielen mit einem Mal wieder alle Ungereimtheiten der letzten Tage und Wochen ein. Sie hatte es nicht mit einem gewöhnlichen Einbrecher zu tun. Derjenige, der sich in ihrer Wohnung seit Wochen zu schaffen machte, war ein sadistischer Psychopath, dem es gefiel, sein Opfer immer weiter an den Rand des Wahnsinns zu treiben. War das sein Ziel? Labte er sich an dem Machtgefühl, das er dadurch entwickeln konnte? Beobachtete er sie heimlich? Sie dachte an den vermummten Jogger, der sie neulich im Park verfolgt und bedrängt hatte. Sie hatte sich nicht umgedreht und nur an der Nähe seines Keuchens erkennen können, wie dicht er ihr auf den Fersen war. Unter Aufbietung aller Kräfte war es ihr gelungen, so zu tun, als bemerke sie ihn nicht. Letztlich hatte diese Strategie auch geholfen. Er hatte schließlich von ihr abgelassen. Solche Kerle brauchten immer eine Bestätigung. Daher war es richtig, ihnen diese nicht zu geben, keine Angst zu zeigen, neutral zu bleiben. Auch jetzt musste sie die Nerven behalten. Wenn sie hier ruhig liegen bliebe, würde er vielleicht wieder auf dem Weg verschwinden, auf dem er gekommen war. Und noch heute würde sie das Türschloss austauschen lassen, koste es an einem Samstag, was es wolle!
Eines war auf jeden Fall klar: Alle Wahrnehmungen der letzten Zeit waren keine Hirngespinste gewesen! Es gab eine Person, die sich heimlich Zutritt zu ihrer Wohnung verschaffte! Wie zur Bestätigung knarrte jetzt die lockere Diele im Flur, die sich kurz vor der Küchentür befand. Das also war die Richtung, in die er sich bewegte! Das hatte nicht nur Maren erkannt. Sie fuhr erschrocken zusammen, als Garfield auf ihr Bett sprang. Er hatte seinen Ruheplatz auf dem Bücherregal verlassen, um schnellstmöglich in die Küche zu gelangen. Menschen, die eine Küche betraten, hatten für ihn etwas Verlockendes. Egal, um wen es sich handelte. Maren dachte, dass es vielleicht doch besser gewesen wäre, den großen Hund zu behalten, anstatt ihn den ehemaligen Nachbarn im Taunus zu überlassen. Verfressene Kater sind einfach nicht loyal, sinnierte sie. Nun hörte sie auch noch das leise Schnappen der Kühlschranktür, das in Garfields Ohren wie Musik klang, denn er stimmte laut maunzend in das Geräusch ein.
»Dich füttert hier wohl keiner, was?«, fragte eine Männerstimme.
Lars! Maren atmete erleichtert auf, und ihr fiel wieder ein, dass sie ihm Julias Schlüssel gegeben hatte. Es könnte heute später werden, hatte er gesagt.
Als das erste Morgenlicht milchig grau durch die Ritzen der Läden drang, lag Maren in Lars’ Armen und versuchte, eine Position zu finden, in der ihr sein Atem nicht im Ohr kitzelte. Er war von einer Minute auf die andere eingeschlafen. Sie lag hellwach neben ihm, wahrscheinlich, weil ihr Adrenalinspiegel nach dem nächtlichen Schrecken und dem heftigen Sex mit ihm noch immer hoch war.
Vorhin hatte sie ihm zu erklären versucht, woher ihre Nervosität rührte, und ihm von den unerklärlichen Phänomenen berichtet, die ihr in den letzten Wochen begegnet waren. Als er nach Beispielen fragte und sie Klospülung, Stand-by-Modus und nicht verschlossene Türen nannte, hatte sie an seiner entspannten Körperhaltung gespürt, dass er dies als harmlos einordnete. Dann war ihr noch mehr eingefallen. Sie schilderte den vermummten Jogger und berichtete von dem Kerl mit den Igelhaaren, der sie neulich im Park fast umgerannt hatte und der dann auch noch unten im Hof stand und mindestens eine Stunde lang die Rückseite des Hauses beobachtete.
Erstaunlicherweise alarmierte auch das Lars nicht besonders. Er hielt das für harmlos. Es gäbe dafür bestimmt eine ganz alltägliche Erklärung.
Maren hatte so schnell nicht aufgegeben. Sie erzählte von den Dingen, die verschwunden waren. Kleingeld. Oder am Mittwoch, oh, wie peinlich, das teure Markenspielzeug von Veras Baby. Das Kind war noch viel zu klein, um es aus dem Wagen zu werfen. Auch dies hatte Lars nicht beunruhigt. Daraufhin hatte Maren beschlossen, sich auch nicht mehr darüber aufzuregen und den Austausch des Türschlosses doch nicht zu veranlassen. Sie wollte nicht, dass Lars sie für hysterisch hielt. Dennoch nahm sie sich vor, noch einmal gründlich nach den Brillantohrringen zu suchen, denn die waren
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