Das verschwundene Kind
Festnetztelefon. Eine Handvoll Bücher war in den geräumigen Fächern der Regale verteilt. Schulbücher! Biologie, Mathematik, Englisch. Dazu Effi Briest und ein Weltatlas. Zwei kleine Blumenvasen standen etwas verloren herum. Alles wirkte, als sei jemand gerade eingezogen oder habe begonnen, seine Sachen zu packen. Wenn man alle beweglichen Besitztümer einschließlich der Kleidung zusammennahm, hätten sie nicht mehr als zwei große Koffer gefüllt. Hatte hier jemand ein Leben auf Abruf geführt, oder gab es noch eine andere Bleibe?
Als Stephan den Schrank öffnete, stellte er zu seinem Erstaunen fest, dass dieser außer einer zusammengefalteten Tischdecke nichts enthielt. Ein Gedanke schoss ihm durch den Kopf. Hatte Özlem Onurhan diesen Schrank ausgeräumt, weil sie vorhatte, ihn zu verkaufen? War dies die heiße gemeinsame Spur mit dem Frankfurter Fall? Hatte sie am Freitagnachmittag nicht einen Bekannten, sondern einen Käufer erwartet? Stephan schloss die Schranktür und ließ seine Blicke weiterwandern. In seinen Adern kribbelte es, das schärfte seine Sinne.
Zwei Stunden lang untersuchte er mit akribischer Sorgfalt jedes Zimmer der Wohnung und machte sich Notizen. Schließlich saß er auf der weichen, hellen, mit kleinen Kissen übersäten Ledercouch und resümierte. Die ganze Wohnung war extrem sorgfältig gereinigt worden. In einigen Schränken gab es leere Fächer, auch in dem Spiegelschrank im Badezimmer. Aus dem Bericht der Spurensicherung war zu entnehmen, dass man die Wohnung schon in diesem Zustand vorgefunden hatte. Hatte also jemand nach dem Mord und vor dessen Entdeckung die Wohnung ausgeräumt und gereinigt, um eigene Spuren zu beseitigen? Wieso gab es keinerlei Fotos von Özlem Onurhan? Nichts Persönliches? Ihre Handtasche mit dem Personalausweis hatte man auf dem Balkon unter einem umgestülpten Blumentopf gefunden. Hatte die Person, die hier so gut aufgeräumt hatte, dieses Versteck übersehen? Gab es jemanden, für den es wichtig war, Özlem Onurhans Identität zu verbergen? War es für sie selbst wichtig gewesen? Ging diese Aufräumaktion auf das Konto des Mörders oder auf das Konto einer anderen Person, die unerkannt bleiben wollte? Wer war der Anrufer gewesen, der den Mord gemeldet hatte? Der Mörder selbst? Oder eine Person, die den Mord entdeckt hatte? Die frischen Wasserspuren in der Dusche und das feuchte Handtuch im Bad verrieten, dass die Wohnung vor kurzem von jemandem betreten und benutzt worden war. Jemand, der nach dem Mord noch einmal hier aufgeräumt und sauber gemacht hatte. Jemand, der alle Erinnerungen tilgen wollte. In diesem Moment hörte er, wie sich ein Schlüssel im Türschloss drehte. Er sprang auf, hielt blitzschnell nach einem Versteck Ausschau und verschwand in dem antiken Schrank, was er sofort bereute. Nicht nur war es darin stockdunkel, sondern es gab auch keinen Spalt, durch den er etwas sehen konnte. So musste er sich allein auf die akustischen Signale konzentrieren, die gedämpft zu ihm drangen.
Im Flur rasselte ein Schlüsselbund, ein Kleiderbügel schlug gegen die Rückwand der Garderobe. Ein Handy meldete sich mit einem fetzigen Popsound, und eine muntere Mädchenstimme antwortete, nachdem sie offenbar eine Weile zugehört hatte.
»Dazu hab ich keinen Bock! Ist doch nur Abhängen! Außerdem will ich noch Mathe lernen. Nach den Ferien geht es richtig los mit den Arbeiten, und dann ist kaum noch Zeit … Kino ist gut, aber erst später, ich gebe vorher noch Nachhilfe … Gut, kann ich machen. Dann um achtzehn Uhr vor dem Cinemax. Ciao.«
Er hörte, wie das Mädchen sich durch die Wohnung bewegte. In der Küche klirrte ein Glas. Dann wurde im Wohnzimmer etwas auf dem Glastisch abgestellt und eine sprudelnde Flüssigkeit eingeschenkt. Tastengeräusche eines Telefons.
»Hallo, Frau Neumüller, hier ist Sümeyye Onurhan. Ich wollte fragen, ob ich die Deutschnachhilfe für Kevin heute auf fünfzehn Uhr vorverlegen kann … gut, fünfzehn bis siebzehn Uhr. Vielen Dank, bis dann.«
Nun war es klar, dieses Mädchen war Özlems jüngere Schwester. Erstaunlich, wie munter sie nach dem tragischen Ereignis wirkte. Auch musste Stephan sich eingestehen, wie verwundert er über das gute Deutsch des Mädchens war. Gleichzeitig ärgerte er sich über seine Vorurteile. Klar, schließlich ist sie in diesem Land geboren und aufgewachsen – wie du. Nachdem Sümeyye gegangen war, konnte er sein dunkles Gefängnis endlich verlassen und fragte sich, ob dieser Schrank
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