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Das verschwundene Kind

Das verschwundene Kind

Titel: Das verschwundene Kind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Doris Bezler
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Überlegenheit.
    Er setzte ein scheues Lächeln auf, schüttelte den Kopf und meinte: »Nein, bedaure, es passt heute doch nicht mehr!« Er deutete kurz in Richtung Toilettentür. »Erst noch kurz für kleine Jungs, und dann bin ich auch schon weg!«
    *
    Auf dem Rückweg zum Präsidium kehrte Lars Stephan in dem kleinen Suppenlokal ein. Er setzte sich im hinteren Bereich an einen der hohen, dunklen Tische und machte sich über eine pikant gewürzte Gulaschsuppe her. Als er von der Mahlzeit aufblickte, sah er, wie Hölzinger gemeinsam mit Sümeyye Onurhan das Lokal betrat. An jeder Bewegung, jeder Berührung, jedem Blick konnte man erkennen, dass die beiden sich sehr nahe waren. Hölzinger entdeckte seinen Kollegen, und gemeinsam mit Sümeyye kam er zu ihm an den Tisch. Innerlich entrüstete sich Stephan über Hölzinger. Er musste ihn unbedingt zeitnah zur Rede stellen. Was fiel ihm ein, sich mit einem Mädchen einzulassen, das in seine aktuelle Ermittlung involviert war? Nach den Dienstvorschriften müsste er längst von dem Fall abgezogen werden. Eigentlich müsste Stephan Heck darüber informieren. Er wunderte sich, wie entspannt Hölzinger sich verhielt. Hatte er so großes Vertrauen in Stephans Loyalität, dass er einfach mit Sümeyye auftauchte? Sümeyye schien ebenfalls ohne jede Skrupel zu sein. Sie beteiligte sich munter am Tischgespräch, das sich um Themen wie das Wetter, die besonderen Seiten von Offenbach und die Vor- und Nachteile der verkürzten Gymnasialzeit drehte. Erneut fiel Lars auf, wie hübsch das Mädchen war. Aber nicht nur das. Sie hatte Charme, war gebildet und klug. Kein Wunder, dass sie Hölzinger den Kopf verdrehte. Soweit ich mich erinnere, ist sie noch nicht einmal achtzehn Jahre alt, dachte Lars Stephan, während er sie beobachtete. Ihre schmalen Finger spielten wieder mit dem Anhänger ihrer Goldkette, der die Form einer Hand hatte, die von zarten Golddrähten gebildet wurde. Auffällig war die Symmetrie dieser goldenen Hand, bei der Daumen und kleiner Finger die gleiche Länge aufwiesen, so dass der längere Mittelfinger die Achse bildete. Als die Gesprächsthemen ins Stocken gerieten, bemerkte Stephan: »Ein schönes Schmuckstück haben Sie da. Wo kann man das kaufen?« Gerade war ihm durch den Kopf gegangen, ob das nicht ein nettes Geschenk für Maren als Trost für die verlorenen Ohrstecker sein könnte.
    »Das Schmuckstück nennt sich ›Fatimas Hand‹. Ich weiß nicht, ob es in Deutschland Juweliere gibt, die das verkaufen. Viele Musliminnen tragen es. Sie bekommen es von ihren Familien oder ihren Ehemännern geschenkt – als Schutz.«
    »Als Schutz wovor?«, fragte Hölzinger und schaute das Mädchen mit einem Blick an, der auszudrücken schien: Du brauchst keinen besonderen Schutz, du hast ja mich.
    Sümeyye lachte. »Vor dem bösen Blick«, erklärte sie.
    »Der böse Blick? Das gab es doch im Mittelalter. Die Hexen haben damit die Menschen verhext«, erwiderte Stephan, indem er sein Schulwissen bemühte. Sümeyye deutete ein Kopfschütteln an. »Mit Hexen hat es weniger zu tun, aber mit dem Teufel. Es schützt vor allem, was böse ist und den Menschen bedroht.«
    »Das heißt, es schützt auch vor dem Blick böser Menschen?«
    Sümeyye nickte. »Den bösen Blick senden Menschen aus, weil sie neidisch sind. Viele Muslime bemühen sich daher darum, sich so zu verhalten und so zu kleiden, dass andere nicht neidisch sind. So steht es ja auch im Koran. Kleide dich angemessen und unauffällig!«
    »Hm, verstehe«, sagte Stephan und betrachtete amüsiert Hölzingers neuen Kurzhaarschnitt. Der Gockelkamm war weg. Sümeyye war seinem Blick gefolgt und musterte Hölzinger mit einem zärtlichen Lächeln. Dann verdüsterte sich ihre Miene, als habe sich eine dunkle Wolke vor die Sonne geschoben. Ihre Augen glänzten.
    »Aber Fatimas Hand hat Hatice nicht geholfen.«
    »Hatte sie auch so eine Kette?«
    »Ja«, bestätigte Sümeyye. »Sogar die gleiche wie ich, denn Özlem hat ihr die Kette geschenkt, die wir einmal von unseren Eltern bekommen hatten.«
    Stephan starrte Hölzinger an, doch dem schien nichts aufgefallen zu sein. Wie denn auch? Seine Gedanken waren woanders. Lars Stephan jedoch hatte, was Kleinigkeiten betraf, manchmal ein phänomenales Gedächtnis – eine wichtige Fähigkeit in seinem Beruf! Sehr genau erinnerte er sich an die ersten Berichte der Spurensicherung. Özlem Onurhan war mit einem Tuch erdrosselt worden, aber an ihrem Hals waren Druckspuren von den

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