Das verschwundene Mädchen: Roman (German Edition)
aber nicht abschrecken und meinte, nach allem, was hier schon passiert wäre, würde die Geschichte bestimmt in der Vogue erscheinen.
Sie drapierte sich, den Rock ausgebreitet, ein Taschentüchlein an den Augen, auf die Verandabalustrade und wollte wissen, wann denn nun die Fotografen kämen. Schließlich habe sie »Rafe« – dabei wies sie die beiden Reporter auf die britische Aussprache hin – ja besser gekannt als irgendjemand sonst.
Die beiden Reporter kannten mich aber besser als irgendjemanden sonst, denn es waren dieselben wie damals, als ich in ein Ruderboot ohne Ruder geschubst worden war und man auf mich geschossen hatte. Außerdem waren die Bloody Marys von Lola und der Kaffee und Kuchen meiner Mutter auch nicht zu verachten. Es war, unter den Umständen, fast so was wie eine Party für die beiden.
Sie erfuhren, wie der Schauplatz des Verbrechens ausgesehen hatte.
Ich erfuhr, dass die Polizei Morris Slade festgenommen hatte.
»Sie haben Morris Slade festgenommen«, erzählte ich Aurora und reichte ihr dazu eine mittägliche Bloody Mary.
»Wundert mich gar nicht. Schließlich hat man ihn bei einer Leiche gefunden.«
»Nein, hat man nicht. Der war gar nicht dort.«
Sie hörte überhaupt nicht zu, sondern war mit ihren eigenen Theorien viel zu beschäftigt. Lippenschmatzend ihren Drink goutierend, deklamierte sie Shakespeare:
Ha! Mir juckt der Daumen schon.
Sicher naht ein Sündensohn.
Um ihre Daumen in die Höhe zu halten, stellte sie ihren Drink kurz ab.
»Was? Wenn du Ralph Diggs meinst, der war kein Sündensohn, glaub ich jedenfalls nicht.« Wieso ich jetzt das Bedürfnis hatte, ihn zu verteidigen, keine Ahnung. Doch: weil er ermordet wurde.
»Der Bursche« – ihre Quietschestimme überschlug sich – »war ein ganz schöner Schlingel. Und übrigens viel zu selbstverliebt. So was Selbstgerechtes ist mir noch nie untergekommen.«
Ich war verwirrt. »Woher weißt du das? Du bist ihm doch gar nie begegnet.«
»Und ob ich das bin, Miss. An dem Tag, als du deine Nase in Sachen gesteckt hast, die dich überhaupt nichts angehen, da hat er mir mittags und abends das Essen gebracht. Dass ich dann aber gleich nach dem Mittagessen meine Schatzbriefe und Juwelen versteckt hab, kannst du dir ja denken. Mein lieber Schwan!«
»Schatzbriefe? Juwelen? Du hast doch gar keine.«
»Denkst du vielleicht. Einen nichtsnutzigen, hinterfotzigen Gauner erkenn ich drei Meilen gegen den Wind. So wie der hier meine Sachen taxiert und geguckt hat, was er mir rauben kann. Oder wen er hier umbringen kann. Erinnerst du dich an Night Must Fall ?« Wohlig erschauernd kippte sie sich ihre Bloody Mary vollends hinter die Binde.
Weil ich ja diejenige war, die sich am meisten an diesen Film erinnerte, ersparte ich mir jeden Kommentar bis auf den Hinweis, dass ich erst zwölf war.
»Woher weißt du dann«, meinte sie verschlagen, »dass der Film älter als zwölf Jahre ist?«
Sie sollte echt für Perry Mason arbeiten! Was mir aber keine Ruhe ließ, war, dass es bei uns beiden offensichtlich klick gemacht hatte: Sie hatte, genau wie ich, die Ähnlichkeit zwischen Ralph Diggs und dem ominösen Pagen im Film erkannt. Ja, sie könnte sogar die alte Dame sein, die ihm im Film beinahe zum Opfer gefallen wäre.
»Sieht wirklich so aus, als hätte Morris Slade ihn erschossen.« Ich wollte es einfach nicht glauben.
Aurora ließ das zu dünnen Scheibchen geschmolzene Eis klirren und hielt mir das Glas hin. »Die werden rekonstruieren, wem die Waffe gehört, und dann wissen sie’s. Wie im Film.«
Seufzend nahm ich ihr Glas.
Auf halbem Weg nach unten stellte ich mir die Szene im Brokedown House noch mal bildlich vor: der Sheriff auf ein Knie gestützt am Boden, Dr. McComb über die Leiche gebeugt und Donny Mooma wie ein Gockel herumstolzierend und irgendwas von einer »Omaknarre« faselnd.
Ich rannte die Treppe vollends hinunter und ins hintere Büro, wo das Telefon stand, knallte Auroras Glas hin, griff nach dem metallenen Telefonregister, drückte den Zeiger auf »M« und klappte es auf. Da war Dr. McCombs Nummer.
» Bitte sei da, bitte sei da«, sagte ich vor mich hin und hüpfte dabei herum, als müsste ich dringend aufs Klo.
»Dr. McComb, hier ist Emma.«
Er klang überrascht. »Emma, du solltest …«
»Was hat Deputy Mooma da gemeint, mit der ›Omaknarre‹?« Ich hatte jetzt keine Zeit für meine umschweifige Art.
»›Omaknarre‹?«
Ich kniff genervt die Augen zusammen. »Er hat von der Schusswaffe geredet,
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