Das verschwundene Mädchen: Roman (German Edition)
Reporterin – oder genauer gesagt, als »Feature-Schreiberin«, wie Mr Gumbrel mich genannt hatte – ja gestattet, Fragen zu stellen. Trotzdem würden bestimmte Fragen womöglich Unmut erregen. Die zum Beispiel: » Haben Sie und Gloria Spiker in Bezug auf den Telefonanruf die Wahrheit gesagt? « Natürlich würde sie nicht sagen: »Nein, das haben wir nicht.« Ich würde also etwas erfinden müssen, was mir nicht unrecht war.
Ich wünschte, ich hätte ein Exemplar der Zeitung mit meiner Geschichte mitgebracht, nur um zu beweisen, wer ich war. »Ich heiße Emma Graham. Ich weiß nicht, ob Sie die Zeitung von La Porte gelesen haben – den Conservative? –, aber da hab ich aufgeschrieben, was in Spirit Lake passiert ist …«
Ihre Stirnfalten glätteten sich ein wenig. »Ja, davon hab ich schon gehört. Ach, du bist die arme Kleine!«
Mein Gesichtsausdruck machte auf arme Kleine, und ich fragte: »Kann ich reinkommen?«
Sie hielt die Tür weiter auf. Ich trat in einen Salon (»Wohnzimmer«, hörte ich meine Mutter verbessernd sagen), blitzblank geputzt, wo es so aussah, als würde gar niemand darin wohnen. Eigentlich nicht besonders einladend.
Prunella streckte die Hand aus, um mir zu bedeuten, auf welchen der schweren, dunklen Sessel ich mich setzen durfte, und ich setzte mich. Sie nahm in dem gegenüber Platz.
»Wie ich schon sagte, ich schreibe über die Ereignisse in Spirit Lake, aber ich interessiere mich auch für diese andere Geschichte, die vor Jahren im Belle Ruin passiert ist.« Mir war etwas unbehaglich dabei, über die ungeschminkte Wahrheit zu sprechen, also schminkte ich sie ein bisschen. »Sehen Sie« – ich lehnte mich in meinem unbequemen Sessel zurück – »als ich mit Gloria Calhoun redete, erwähnte sie Sie und was für eine tolle Freundin Sie wären …«
Prunella Rice wirkte eher alarmiert als erfreut.
Ich fuhr fort: »… und wie nett auch, dass Sie so nah beieinander in derselben Straße wohnen.«
Nervös fuhr ihre Hand an den Haarknoten in ihrem Nacken. »Äh, das würd ich jetzt nich sagen. Ich mein, wir sehen uns ja kaum, obwohl wir so nah beieinander wohnen. Wir sind zusammen zur Schule gegangen, in La Porte …« Sie verstummte.
»Also, teilweise geht es in meiner Geschichte um das Hotel, das damals abgebrannt ist.«
Sie nickte unmerklich. Mir schien, als würde sie das Nicken lieber vermeiden wollen.
»Und dann natürlich um die Entführung. Ich will einfach ganz sicher sein, dass ich alles richtig drauf habe.«
Als wäre ich bittere Arznei, pressten sich ihre Lippen so fest aufeinander, dass nichts sie wieder aufstemmen würde. Wieso hatte ich nicht wenigstens Notizbuch und Bleistift dabei, damit ich aussah wie jemand, der für eine Zeitung was aufschreibt? Denn genau das war ich ja. Ich erkannte, dass es viel einfacher war, sich Sachen auszudenken, als die unverblümte Wahrheit zu erzählen.
»Wie ich gehört habe, musste Mrs Calhoun – damals Gloria Spiker – das Baby ein paar Minuten allein lassen, um Sie anzurufen.« Ich hatte es, fand ich, nachsichtig formuliert: sie »musste«, statt einfach bloß aus purer Langeweile zu telefonieren.
Der verkniffene Mund lockerte sich. »Das stimmt. Wir wollten am Tag drauf in das alte Limerick-Kino, das früher in Hebrides war, einen Film schauen. Da drin spielte Veronica Lake, und Gloria hatte grade im Photoplay einen Artikel über Veronica Lake gelesen. Da fiel’s ihr wieder ein, und drum hat sie angerufen.« Sie lehnte sich in ihrem Sessel zurück und sah irgendwie selbstzufrieden aus.
Etwas an dem, was sie gesagt hatte, machte mir zu schaffen, und ich merkte, dass ich die Stirn runzelte. Ich hörte sofort auf und fasste mir an die Schläfe. »Oh, Entschuldigung. Ich kriege manchmal so Kopfschmerzen …«
»Na, für Kopfschmerzen bist du aber noch ein bisschen jung, würd ich sagen.«
»Hab ich geerbt. Meine Großtante Aurora Paradise kriegt rasende Kopfschmerzen. So schlimm, dass sie überhaupt niemand um sich haben kann.« Ich beugte mich vor, um den Ernst der Lage zu unterstreichen. »Drum wohnt sie bei uns im Hotel im obersten Stockwerk, und ich bring ihr auf einem Tablett das Essen hoch.«
Das war nämlich der Trick. Wenn man sich Sachen ausdenkt, muss genug Wahrheit drin stecken, damit, falls jemand beschließt, der Sache nachzugehen – nun, Aurora dann auch im dritten Stock findet. Es stimmte alles, bis auf die Kopfschmerzen.
Prunella guckte mitleidig, aber bloß aus Höflichkeit. »Das ist ja schrecklich.
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