Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das verschwundene Mädchen: Roman (German Edition)

Das verschwundene Mädchen: Roman (German Edition)

Titel: Das verschwundene Mädchen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martha Grimes
Vom Netzwerk:
überhaupt kein Interesse hatte. Die Kelche erinnerten mich daran, dass ich beim Abendessen bedienen musste.
    Als Nächstes kam – ich wusste es! – die Waisen-im-Schneesturm. Obwohl die Karte gar nicht so hieß.
    Mrs Louderback schüttelte den Kopf. »Die scheinen dich ja richtig zu verfolgen.« Sinnierend betrachteten wir die Karte. »Du hast da wohl ein schon lange bestehendes Problem.«
    »Die Karte hilft mir jedenfalls nicht, es zu lösen.«
    »Nein, es ist auch eher so, dass die Lösungen in uns ruhen.«
    Das verhieß Schlimmes. »In denen sehe ich sie jedenfalls nicht ruhen.« Ich tippte leicht auf die Karte.
    »Es sind gar keine richtigen Waisen, weißt du. Es ist auch kein richtiger Sturm.«
    »Was ist das dann für Schnee, der ihnen in die Gesichter fliegt?«
    Das hätte sie mir wirklich schon früher sagen können, fand ich. Miss Jo vielleicht nicht, aber wir anderen hatten sie alle – unsere Augen, Ohren, Nasen und Münder.
    Mrs Louderback sagte: »Glaubst du alles, was du siehst?«
    »Mehr als das, was ich nicht sehe.« Hoffentlich würde sie jetzt nicht auf Gott und die Engel und das alles zu sprechen kommen. Mit Father Freeman hatte ich es schon schwer genug.
    »Ich meine es so: Wie deutest du das, was du siehst?«
    War ich hier eigentlich richtig?, fragte ich mich. »Wenn ich eine Katze an der Tür vorbeigehen sehe, dann sieht mein Verstand, nun ja, eine Katze an der Tür vorbeigehen.«
    Sie nickte und griff hinter sich in ein blaues Schränkchen, aus dem sie ein Buch hervorzog. Sie blätterte und drehte es so hin, dass ich reinschauen konnte. Dieses täuschende Bild hatte ich schon öfter gesehen: Vase und Silhouette von zwei Gesichtern, je nachdem, was das Auge damit anstellte. Meins ging zwischen Vase und Gesichtern hin und her. Bevor sie die langweilige Frage stellen konnte, sagte ich: »Entweder eine Vase oder die Silhouetten von zwei Gesichtern.«
    »Ganz genau. Welches davon siehst du?«
    »Beides.«
    Sie schüttelte den Kopf. »Beides auf einmal nicht. Ich glaube nicht, dass das Auge beides gleichzeitig aufnehmen kann.«
    Plötzlich musste ich an den Künstler denken und an seine Fadeaway Girls : Da war der rote Mantel Teil des roten Hintergrunds, oder der weiße Mantel eines anderen Mädchens verschmolz mit dem Schnee. Für die fehlenden Teile des Mantels musste man die Umrisse selbst hinzufügen.
    »Doch, kann man.« Einer Erwachsenen sollte jemand in meinem Alter vielleicht nicht direkt widersprechen, aber damit wollte ich mich jetzt nicht aufhalten. »Haben Sie schon mal Zeitschriften gesehen, wo auf der Titelseite ein Fadeaway Girl abgebildet war?« Als sie den Kopf schüttelte, beschrieb ich sie. »Man kann alles auf einmal sehen, den Hintergrund und das Mädchen. Weil das Mädchen Teil des Hintergrunds ist. Wenn Sie verstehen, was ich meine.« Mit zusammengekniffenen Augen musterte ich sie, als könnte ich ihr meine Bilder von den Fadeaway Girls aufzwingen.
    Sie schüttelte aber bloß wieder den Kopf.
    Mein Kopf sollte meinem Auge sagen: Das war zu kompliziert. Oder war es umgekehrt? »Ich sehe immer wieder dieses Mädchen …« Ich wollte es eigentlich gar nicht sagen, es rutschte mir einfach so heraus. »Erinnern Sie sich noch? Ich hab’s Ihnen erzählt.« Hatte ich das?
    »Ein Mädchen? Nein, daran kann ich mich nicht erinnern.«
    »Sie taucht immer wieder da auf, wo ich bin. Hier und in Cold Flat Junction.«
    »Und du weißt nicht, wer sie ist?«
    »Nein.« Ich glaubte aber doch, oder? Es war Fay Slade, oder nicht? Deutete denn nichts darauf hin? »Sie könnte das Slade-Baby sein – ich meine, das Baby, das vor zwanzig Jahren verschwunden ist. Das angeblich entführt wurde.« Mrs Louderback hatte die Woodruffs und Morris Slade damals gekannt.
    »Aber danach hat hier in der Gegend nie wieder jemand von der Sache gehört. Wieso glaubst du, sie ist es?«
    »Weil sie aussieht wie Morris Slade, jedenfalls auf Bildern, die ich von ihm gesehen habe. Sie sieht auch aus wie Rose Devereau Queen. Weil sie und Morris sich ähneln. So wie die aussahen, hätten sie Zwillinge sein können, bloß war Rose ja viel älter als Morris.«
    Mrs Louderback guckte skeptisch. »Ich weiß nicht, Emma. Man sollte doch meinen, wenn es die junge Slade wäre, die zurückgekommen ist, würde die sich doch mehr bemühen herauszufinden, was passiert war, oder nicht?«
    Das stimmte natürlich. »Wer ist sie also dann? Wieso taucht sie immer da auf, wo ich bin?«
    »Spielen unsere Augen uns nicht manchmal einen

Weitere Kostenlose Bücher