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Das verschwundene Mädchen: Roman (German Edition)

Das verschwundene Mädchen: Roman (German Edition)

Titel: Das verschwundene Mädchen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martha Grimes
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wirklich nervtötend. Ich wollte schon was sagen, als die Küchentür aufging und ein spindeldürres Frauchen herausschwebte. Mrs Louderback verabschiedete sie und begrüßte mich, wandte sich dann an die Starrerin und sagte: »Miss Jo, kommen Sie bitte herein.«
    Da sah ich den Stock und schaute zu, wie diese Miss Jo sich aufrappelte, wobei ihr suchender Blick überall und nirgends hinging. Meine Reaktion von vorhin war mir peinlich. Die Arme war blind wie ein Maulwurf.
    Da ich nach dem Zwei-Uhr-Termin als Nächste hätte drankommen sollen, dachte ich mir, dass Miss Jos Besuch wohl nicht vereinbart war. Es musste sich demnach um einen Notfall handeln. Ich überlegte, was es wohl sein könnte. War sie eben erst plötzlich erblindet? Na, das wäre ja interessant und würde sich für ein Interview eignen. Ich überlegte ein Weilchen und kam zu dem Schluss, dass es sich für eine ganze Reihe von Interviews eignen würde: darüber, wie sich die Dinge von der Warte der plötzlich Behinderten ausnahmen – der plötzlich Tauben, der plötzlich vollkommen Gelähmten, der plötzlich Sprachbehinderten (ich kam bloß wegen der Brüder Woods drauf, aber die waren ja ihr ganzes Leben schon so), der plötzlich Amputierten. Es gab einen wirklich guten Film, in dem der Held von einem alten Arzt gehasst wurde, dessen Rache darin bestand, dass er dem Helden die Beine amputierte – alle beide. Es war ziemlich gruslig. Seine Freundin redete immer wieder auf ihn ein, er solle sich doch berappeln. Wie denn? Sollte er etwa lernen, auf den Händen zu laufen? Der Film war aber gut. Ronald Reagan spielte darin mit.
    Ich überlegte, ob Miss Bertha vielleicht auch auf einen Schlag bucklig geworden war. Ob sie zum Beispiel der Blitz getroffen hatte. Nein, diese Haltung kam von jahrelanger Übung. Ich versuchte, wie Miss Bertha die Schultern zu krümmen, konnte es aber nicht. Dann hörte ich auf, denn ich sollte mir ja eigentlich überlegen, was ich Mrs Louderback oder ihre Karten fragen wollte. Ich hoffte bloß, dass ich nicht wieder die Waisen-im-Schneesturm-Karte bekam. Die verhieß irgendwie nichts Gutes. Der Gehängte, ebenfalls eine Karte, die mich verfolgte, verhieß anscheinend Gutes. Was ich mir allerdings nur schwer vorstellen kann. Er hatte einen Strick um den Fußknöchel und hing so von einem Ast, das eine Bein quer über das andere gelegt. (Die von Ronald Reagan verkörperte Filmfigur hätte darin vielleicht was Gutes erkennen können, aber wer sonst?) Es steht ziemlich schlecht um einen, wenn einem ein Gehängter was Gutes verheißen soll.
    Mir wurde auf einmal klar, dass das dumme und alles andere als einfühlsame Gedanken waren. Ich sollte lernen, mehr Mitgefühl aufzubringen für all die Leute, die nicht so gut dran waren wie ich. Nicht jeder kam zum Beispiel in den Genuss der Hühnerpastete meiner Mutter, die, glaube ich, heute Abend auf der Speisekarte stand. Nicht dünn und wässrig wie der Fertigfraß aus der Tiefkühltruhe – in der von meiner Mutter waren große Hähnchenfleischstücke drin.
    Zwischen meinem Stuhlkissen und der Lehne hatte ich ein Gummiband entdeckt und wollte es gerade quer durchs Zimmer schnippen, als die Tür aufging und die blinde Miss Jo aus der Küche kam. Eine Riesenladung Adrenalin wurde in meinem Innern ausgeschüttet.
    »Emma!« Mrs Louderback klang überrascht, als hätte sie mich nicht vor einer Viertelstunde eben erst gesehen. Ich beobachtete gebannt, wie Miss Jo um einen im Weg stehenden Fußschemel herumlavierte. Ich hätte aufstehen und ihn wegtun können, fand es aber besser, wenn die Behinderten sich selbst behalfen. Auf jeden Fall war es interessanter.
    Ich sprang von meinem Stuhl auf und ging in die Küche, immer noch unsicher, wie ich mich dem Thema des entführten – oder vielmehr nicht entführten – Babys annähern sollte. Mrs Louderback hatte die Woodruffs gekannt, denn sie hatten den Sommer immer hier in Spirit Lake verbracht. Ihnen gehörte das größte Haus in der Gegend – es stand auf einem Riesengrundstück.
    Ich starrte den Stoß Spielkarten an, der hübsch säuberlich in der Mitte des Tischs lag und seine Geheimnisse für sich behielt.
    »Na, Emma«, sagte Mrs Louderback, setzte sich mir gegenüber und schob ein Haarsträhnchen zurück. »Wie geht’s dir denn heute? Am Telefon klangst du ja ein bisschen aufgelöst.« Sie ordnete die Karten neu und hob ab wie ein Croupier im Casino.
    »Nein, schon okay.«
    Sie drehte eine Karte um: die Zwei der Kelche, an der ich

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