Das verschwundene Mädchen: Roman (German Edition)
kriegen die schon noch hin, da bin ich sicher. Dein toller Bruder schafft doch alles.«
Außer zum Frühstück von der großen Garage in die Küche zu laufen. »Ich glaube, das ist Absicht.«
Ich sah mich mit doppeltem Stirnrunzeln konfrontiert.
»Was ist Absicht?«, fragte Miss Flagler.
»Die offenstehenden Fragen.« Ich ließ mir dies durch den Kopf gehen, da ich selbst nicht wusste, was ich meinte. Dann fiel mir etwas ein. »Manchmal will Will ein Problem eigentlich gar nicht lösen.« Ich redete natürlich von mir selbst.
Miss Flyte war eine besonders intelligente Person, und so dachte ich, dass ihr vielleicht etwas Nützliches einfallen würde.
Miss Flagler ergriff zuerst das Wort. »Warum um alles in der Welt sollte er seinem eigenen Projekt absichtlich schaden wollen?«
»Ich kann mir schon ein paar Gründe denken.« Miss Flyte rührte in ihrem Tee.
Gut. Dann wollen wir mal hören. Albertine grapschte sich wieder eine Haarsträhne, um darauf herumzukauen.
»Einer könnte sein, dass er fürchtet, dieses Stück könnte nicht so erfolgreich sein wie das letzte, und es deshalb hinauszögert.«
Nein! Dass Will und Mill sich vor irgendwas fürchten außer vielleicht einem Grizzlybären, der ihnen das Abendessentablett reinbringt, würde mich überraschen.
»Oder«, fuhr Miss Flyte fort, »vielleicht ist er besorgt, dass es sogar noch besser wird und er dann ständig überwältigende Inszenierungen herausbringen muss.«
Abermals nein! Will ist bei Weitem nicht so versessen drauf, Leute zu verblüffen, wie ich. Er freut sich über Beifall, aber das liegt daran, dass er ein Schmierenkomödiant ist. Aus anhaltender Berühmtheit macht er sich nichts.
Miss Flyte redete weiter: »Oder vielleicht will er nicht, dass es endet.«
Was? Da spitzte ich jetzt doch die Ohren.
»Ich hatte einmal eine Freundin, Zelda Bittner hieß sie, die mehrere Romane herumliegen hatte, die sie aber nie ganz auslas. Etwa zwanzig Seiten vor dem Schluss klappte sie das Buch immer zu. Dabei gefielen ihr einige davon wirklich gut. Zwei hatte sie sogar ohne Unterbrechung gelesen bis zu diesen letzten zwanzig Seiten und dann einfach aufgehört. Was mich daran wirklich überraschte, war, dass auch einige Kriminalromane dabei waren, und das bedeutete, dass sie die Auflösung nicht erfuhr!«
Ich sagte: »Und? Hat sie den Schluss dann schließlich gelesen?«
»Nein. Sie ist gestorben.« Miss Flyte griff nach ihrer Teetasse, als hätte sie das eben Gesagte gar nicht gesagt.
»Ach.« Miss Flagler fiel in ihren Sessel zurück, als hätte sie jemand geschubst. »Sie hat es nie erfahren.«
Miss Flyte nickte. »Nie erfahren, nein.«
»An was ist sie denn gestorben?« Ich wollte es praktisch angehen. Der Tod hatte womöglich, wie es so schön heißt, bevorgestanden, und in dem Fall hätte sie den Schluss ja lesen können. Oder wenn der Arzt ihr gesagt hätte: »Tut mir leid, aber Sie haben bloß noch zwei bis drei Wochen, Zelda.« (Der Name gefiel mir, und ich spielte mit dem Gedanken, den Leuten zu erzählen, es sei mein Zweitname und ich würde von nun an gern so genannt werden.)
Die sterbende Zelda müsste natürlich erst mal nacheinander Familie und Freunden die Nachricht übermitteln und vielleicht rasch ein Testament schreiben, falls sie noch keins hatte, aber dann könnte sie alle ihre Bücher einsammeln und von jedem den Schluss lesen.
»Sie hatte einen Schlaganfall«, sagte Miss Flyte.
»Sie meinen, sie ist einfach so tot umgefallen?«
»Nun, sie fiel erst mal in ein Koma, bevor sie starb.«
»Ist sie davon überhaupt noch mal aufgewacht? Wenigstens für ein kurzes Weilchen?«
»Nein, du weißt ja, wie es bei einem Koma ist.«
Schon, wenn ich mir Ree-Jane manchmal anschaute. »Also, nicht mal für« – ich rechnete kurz nach, wie lange es wohl dauern würde, zwanzig Seiten zu lesen – »eine Viertelstunde?« Falls sie Schnellleserin war.
Miss Flyte schüttelte den Kopf und betrachtete mich mit einem etwas überheblichen Lächeln, als würde ihr soeben bewusst, dass ich etwas beschränkt war. Ich zuckte die Schultern, als wären mir all die ungelesenen Enden egal, die da vor sich hinmoderten. Ich wollte nicht übereifrig erscheinen, musste es aber erfahren. »Haben Sie denn eins von diesen Büchern mal gesehen? Ich meine, kennen Sie vielleicht eins davon?« Ich probierte ebenfalls ein überhebliches Lächeln, aber ich glaube, ich sah bloß aus, als wäre meine Nase in der Luft stecken geblieben.
»Lass mich mal kurz
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