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Das verschwundene Mädchen: Roman (German Edition)

Das verschwundene Mädchen: Roman (German Edition)

Titel: Das verschwundene Mädchen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martha Grimes
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erinnern, wer der Künstler war, obwohl er so berühmt war. Der Gedanke, dass Berühmtheit so vergänglich war, deprimierte mich. Wenn sich aber bloß solche Leute wie ich an ihn erinnerten, war es kein Wunder, dass sie vergänglich war.
    Ich schaute Walter also zu, wie er sich immer wieder hinunterbeugte, und hörte das gelegentliche Scherenschnippen, als mich plötzlich das Gefühl überkam, dass das hier realer war als alle anderen Ereignisse dieses Tages. Alles Übrige erschien jetzt gewichtslos wie Maisbart. Wörter und Begebenheiten flogen umher wie die Samen von Stäublingen. Farben, die so hauchzart waren wie der Widerschein der Sonne auf dem Wasser.
    Ich hätte jetzt wie manche Leute sagen können: »Es hat mir wirklich die Augen geöffnet.« Oder wie Father Freeman gern von »dunkel durch eine Scheibe sehen« sprach, obwohl er es zu mir nicht mehr sagte, nachdem ich ihm geraten hatte, er solle sich einen Fensterwäscher besorgen. Es gibt einen Ausdruck dafür, wenn Dinge zusammenkommen, ich weiß ihn aber nicht. Es war ein bisschen wie die farbigen Splitter, die man sieht, wenn man ein Kaleidoskop dreht und die Splitter zu einem Muster zusammenrutschen.
    Was war hier das Muster?
    Kurz darauf polterte Walter die Treppe hoch, in der Hand ein dickes Büschel Minze.
    »Walter, du warst so lang da draußen, man hätte meinen können, du mähst ein ganzes Maisfeld.«
    Er lachte sein bedächtiges Lachen. »Ich hab die mit den guten Blättern gesucht. Mach dir jetzt keinen Kopf mehr, ich schaukel das schon.«
    Mit dieser merkwürdigen Botschaft fegte Walter an mir vorbei und durch die Fliegengittertür hinein. Ich sah, wie er durch die Küche marschierte und von dort wieder nach draußen.
    Ich ging die Treppe hinunter und über den Kiesweg zum Rosa Elefanten hinüber, um mir ein Plätzchen zu suchen, wo ich nachdenken konnte. Der Hotelkater tauchte plötzlich aus der Dunkelheit auf und schob sich hinter mir hinein. Sein rauchgraues Fell war ganz feucht vom Herumstreifen. Er war durch dasselbe Gras gegangen wie Walter vorhin, doch hatte der Kater wohl nach Feldmäusen Ausschau gehalten und nicht nach Minze. Die beiden ähnelten sich in gewisser Weise: Sie hatten ein Ziel, ein Vorhaben. Sie zogen einfach los und machten etwas. Ohne viel Federlesens.
    Der Kater genoss es, auf dem Tisch neben der Sturmlaterne zu liegen, nachdem ich die Kerze angezündet hatte. Dann flackerten seine hellen Augen wie die Flamme. Jetzt ließ er sich nieder, die Pfoten dicht an die Brust angelegt, die Augen bedächtig blinzelnd, und sah aus, als wäre er hereingekommen, um mir eine Botschaft zu übermitteln: » Dein Denken ist konfus .«
    Ich war so niedergeschlagen, weil ich diese neue Komplikation einfach nicht aushielt – dass Morris Slade womöglich weitere Kinder hatte. Wieso sollte er?, grübelte ich. Hatte es etwas damit zu tun, dass er ein »Playboy« war? Ich musste zugeben, dass mir das ganze Thema Sex ziemlich schleierhaft war, aber ob ich es nun kapierte oder nicht, Babys kamen auch so weiter auf die Welt.
    Doch dann sagte ich mir, dass Aurora das mit Morris Slade einfach so dahingesagt hatte, ebenso wie die Bemerkung, Miss Isabel Barnett sei vollkommen unzuverlässig. Aurora hatte sich nicht viel dabei gedacht.
    Die Geschichte hatte bereits vier verschiedene Wege eingeschlagen, von denen offensichtlich keiner stimmte. Erst war das Mädchen Ben Queens Enkelin, also Ferns Tochter, als Nächstes war sie das Slade-Baby Fay, und dann war die kleine Fay an dem Abend – oder sonst irgendeinem Abend – überhaupt nicht im Belle Ruin gewesen und demnach auch nicht entführt worden, und dann war das Baby doch dort, und es hatte diese falsche Entführung gegeben.
    Und jetzt gab es noch eine fünfte Möglichkeit: Fay war gar nicht zu diesem Mädchen herangewachsen.
    Das Mädchen, das ich gesehen hatte, war jemand anders.
    Und die schreckliche Frage lautete: Gab es sie überhaupt? Oder sah ich bloß Gespenster?
    Ich kannte eben keinen, den ich hätte fragen können, denn ich kannte überhaupt keine Verrückten, außer Ree-Jane, und die war wahrscheinlich gar nicht richtig verrückt, bloß wieso dann ihr ganzes Gerede und Gelächter, wenn gar niemand in der Nähe war – was hatte es damit auf sich? Sie führte sich auf, als würde sie mit einer unsichtbaren Person reden, lächelte, lachte manchmal lauthals. Ach, egal, ich konnte mir schon vorstellen, wie es wäre, wenn ich Ree-Jane um Rat fragen würde. Sie wäre hoch entzückt, dass

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