Das verschwundene Mädchen: Roman (German Edition)
ich glaubte, ich würde Gespenster sehen, und würde mich bestimmt darin bestärken, dass es so war.
Es war also besser, zu dem Gedanken zurückzukehren, dass das Mädchen nicht diejenige war, für die ich sie hielt, dass sie einfach ein Mädchen war, eine Besucherin, eine, die kam und ging, die auftauchte und wieder verschwand, ein hübsches Mädchen in einem milchigblauen Kleid – oder in rotem Samt, das einen Brief einwarf, oder in schwarzer Baumwolle, das vor einem Schlüsselloch kniete. Ein Mädchen, das mit der Leinwand verschmolz.
28. KAPITEL
Die Hand, die den Hut festhielt, war fein und gepflegt, die Nägel glatt und eckig gefeilt, der Hut aus Stroh. Ich glaube, ich hatte noch nie einen Mann mit Strohhut gesehen. Dieser hier war so fein wie die Hand, die ihn festhielt.
Der Anzug war weiß, passend zum Sommer. Daran musste ich bei seinem Anblick denken: an Sommer und ans Meer.
Er stand gegen die vorderste der dunkel getäfelten Tischnischen im Rainbow gelehnt, mit dem Rücken zu mir, so dass ich ihn ausgiebig betrachten konnte, ohne sein Gesicht zu sehen. Er unterhielt sich mit jemandem in der Nische, mit wem, konnte ich nicht erkennen. Ich fragte mich, wieso er sich nicht hinsetzte. Aber nein, er wirkte nicht wie der typische Gast im Rainbow.
Er war hochgewachsen, etwa so groß wie der Sheriff und sah vermutlich gut aus. Ich überlegte, ob wohl ausschließlich gutaussehende Männer mein Leben bevölkern würden, aber dann fiel mein Blick auf die Stammgäste entlang der Theke, auf Bubby Dubois und den Bürgermeister, und ich verabschiedete mich von dem Gedanken.
Ich trank ein Schoko-Soda und versuchte, die nächste Folge meiner Geschichte für den Conservative zu schreiben, schaute dabei aber immer wieder zu dem Mann im Strohhut hinüber. Sein Arm ruhte oben auf der hohen Tischnischenkante, seine andere Hand drehte den Hut unmerklich hin und her. Um den Hut war ein dunkelblaues Band. Der Mann hatte flach anliegende Ohren und hell meliertes Haar. Seine Kleidung sah von hinten sehr elegant aus.
Ich hatte noch keinen einzigen Satz geschrieben und zog bloß noch Luft durch meinen Strohhalm, als Maud zu mir in die Nische rutschte.
»Weißt du, wer das ist?«, flüsterte sie.
Ich hörte auf, durch den Strohhalm zu pusten, und schüt telte den Kopf. »Nein, aber ich vermute mal, es ist Morris Slade.«
Sie nickte. »Hat mir Bürgermeister Sims verraten.« Sie deutete mit einem knappen Kopfnicken ungefähr in Richtung Theke.
»Mit wem unterhält er sich?« Es fiel mir immer noch schwer zu glauben, dass er hier war, in La Porte.
»Mit Isabel Barnett.« Sie rutschte geräuschvoll an die Tischecke, um einen Blick auf ihn, oder jedenfalls seinen Rücken, werfen zu können.
Er stand nun schon gut zehn Minuten dort, es war also mehr als nur ein beiläufiges Gespräch. Was sie Morris Slade wohl Interessantes zu erzählen hatte?
»Was glaubst du, wieso er wieder hergekommen ist?«, wollte Maud wissen. »Er war ja nicht mehr hier, seit das Baby entführt wurde.«
»Das war das letzte Mal, jedenfalls soweit wir wissen.«
»Mach’s nicht noch komplizierter«, sagte sie.
Wieso nicht? Ich schaute zu, wie sie sich eine Camel aus der Packung schüttelte.
»Mein Gott, sieht der gut aus.«
»Ich geh jetzt ins Gerichtsgebäude. Darf ich mal?« Ich rutschte über den Sitz und stand auf. Er war zwei Nischen weiter vorn, und als ich vorbeiging – nicht ohne ihm ein bisschen auf die Pelle zu rücken -, ließ ich meinen Geldbeutel fallen, bückte mich, um ihn wieder aufzuheben, richtete mich auf, entschuldigte mich bei ihm und grüßte Miss Isabel. Dabei schaute ich ihn immer noch nicht an, weil ich mir sicher war, dass er wusste, wie sehr ich mich bemühte, es zu vermeiden.
Ich trottete weiter und aus der Tür, nicht ohne zu bemerken, dass die meisten Männer an der Theke sowie Wanda Waylans ihm verstohlene Blicke zuwarfen. Beim Hinausgehen bedachte mich Shirl nicht einmal mit ihrem üblichen griesgrämigen Blick.
»Er is nich hier.« Donny Mooma schob seine Füße vom Schreibtisch und stand bloß deshalb auf, um seine Daumen in den breiten Gürtel zu stecken und seine Heldenbrust vorzustrecken. Als ob er eine hätte. »Der Sheriff is in Sachen Polizeiarbeit unterwegs.«
Maureen winkte zur Begrüßung, und ich winkte zurück. Man hätte meinen können, wir wären Welten voneinander entfernt statt bloß am jeweils anderen Ende des Raumes. Es war ein großer Raum. Sie machte sich wieder dran, auf ihre Schreibmaschine
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