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Das verschwundene Mädchen: Roman (German Edition)

Das verschwundene Mädchen: Roman (German Edition)

Titel: Das verschwundene Mädchen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martha Grimes
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Finger und zog sie durch den Mund. Das tat ich normalerweise nicht, aber irgendwie hatte ich das Gefühl, damit schaffte ich Distanz zwischen uns, einen Zwischenraum.
    So verharrten wir einige Augenblicke. Ich zuckte darum ganz erschrocken zusammen, als ich eine Stimme hinter mir hörte. »Emma Graham!«
    Dr. McComb kam mit seinem Schmetterlingsnetz ins Zimmer. Sein Lächeln war von der Sorte, die weiß, dass es ein Lächeln ist und es auch so meint. »Wusste gar nicht, dass du kommst.« Er sagte es so, als wäre es seine Schuld, dass er mich hatte warten lassen.
    »Hallo, Dr. McComb.« Ich sprang auf und atmete erleichtert auf.
    »Na, hast du dich mit Betsy unterhalten?« Er wandte sich an sie. »Betsy, setz doch schon mal den Kessel auf!«
    Betsy nickte und erhob sich, wobei sie mir im Hinausgehen wieder so ein angedeutetes Lächeln schenkte. Ich hatte Betsy noch nie in der Küche gesehen, wenn Dr. McComb und ich uns dort Brownies und Kaffee genehmigten.
    »Na, komm, Emma. Ich habe draußen einen Wander-Gelbling im Auge.«
    »Okay!« Ich wollte eigentlich richtig schmetterlingsinteressiert klingen, was ich gar nicht war. Nicht, dass ich sie nicht mochte, das natürlich nicht. Ich fand bloß das Herumhocken im hohen Gras und eine Stunde warten nicht den besten Zeitvertreib.
    Für Dr. McComb waren Schmetterlinge jedoch das Höchste. Er hatte sogar mindestens ein Buch darüber geschrieben, und ich hatte mir die Mühe gemacht, es in der Bücherei zu lesen. Außerdem hatte ich auch noch andere Schmetterlingsbücher durchgeblättert, zum Glück mit vielen Bildern drin. Wenn man sich mit den Hobbys anderer Leute befasst, kriegt man sie am ehesten dazu, einem zu helfen. Man stellt es so hin, als ob man das, was sie machen, auch gern selber gemacht hätte, wenn das eigene Leben keine falsche Wendung genommen hätte.
    Wir waren bereits draußen und um die Hausecke, als er plötzlich stehen blieb. »Warte. Küche. Ich wollte gerade die Brownies reinschieben. So ein Glück, dass du auftauchst.«
    Glück ist der richtige Ausdruck. Im Nu war er in der Küche und gleich wieder da, und wir setzten unseren Weg entlang des Pfades durch das dschungelartige Gelände hinter dem Haus fort. An manchen Stellen stand das Gras so hoch wie ich. Ich schlug mich hinter ihm den Pfad entlang, den seine Schritte über die Jahre ausgetreten hatten.
    »Ich überlege gerade – wer ist Betsy?«
    »Meine Schwägerin.« Seine Brille rutschte ihm fast von der Nase, als er sich bückte, um etwas genauer in Augenschein zu nehmen. »Mein Bruder ist vor zehn Jahren gestorben, und da ist Betsy zu mir gezogen. Sie macht überhaupt keine Umstände.«
    »Ah, das seh ich. Sie ist sehr still.«
    »Sollten andere ruhig auch sein.«
    Na, ich wusste nicht so recht! »Sie ist still, so wie jemand, der einen anderen sehr vermisst. Ich habe auch so eine Freundin, die erfindet immer irgendwelche Leute, wissen Sie.«
    »Betsy war eine Zeitlang in einer Nervenklinik. Nach Joes Tod – das ist mein Bruder – ist sie zusammengebrochen. Ein Jahr war sie drin. Du bist ja ziemlich helle, dass du da draufgekommen bist.«
    »Ah, wissen Sie, das sieht man, wenn jemand trauert.« Schon möglich, aber nicht in Betsys Fall.
    Wir gingen ein Stückchen weiter den Pfad entlang, und ich wehrte ein paar Schmetterlinge ab. Ein Schwarm blassgelber Exemplare schwirrte um Dr. McCombs Kopf herum, so dass er aussah wie in Licht gebadet. »Ist Betsy dort auch mal Patienten begegnet, die, ähm, Leute sahen, die gar nicht da waren?«
    Als Dr. McComb sein Netz umherschwenkte, flog ein Dutzend Schmetterlinge auf. »Du meinst, die halluzinierten? Stellten sich was vor, was gar nicht da ist? Potzblitz, ich glaube, da haben wir einen Wander-Gelbling. Schau mal.«
    Mit einem Seufzer bückte ich mich und sah einen Schmetterling, der genauso aussah wie alle anderen Schmetterlinge. »Hm, glaub ich nicht.«
    Er musterte mich belustigt, überrascht.
    Kein Wunder. »Die Farbe eines Wander-Gelblings ist nämlich nicht so kräftig gelb wie bei dem hier.« Mit anderen Worten: eher gelblich. Eine der Regeln, die ich möglichst befolgte: Wenn man so tun will, als wüsste man etwas, muss man ganz sicher klingen. Wenn man sich irrt, dann ist es wenigstens kein Wischiwaschi-Irrtum, und man hat den Eindruck vermittelt, dass man sich mit dem Thema eigentlich noch viel besser auskennt. »Aber der da« – ich starrte in die leere Luft – »schade, den haben Sie verpasst. Der da war bestimmt ein echter

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