Das verschwundene Mädchen: Roman (German Edition)
Wander-Gelbling.«
Er schaute trotzdem hin, sah aber nichts.
»Es könnte«, meinte ich mit einem Schulterzucken, »natürlich auch sein, dass ich halluziniere.«
Grinsend schob er seine Schildmütze hoch und rieb sich den Kopf. »Das bezweifle ich. Du wärst die Allerletzte, die anfängt zu halluzinieren.«
Was? »Wirklich?«
»Dafür hast du viel zu viel gesunden Menschenverstand. Du stehst mit beiden Beinen so fest auf der Erde, dass sie förmlich drin versinken. Wie ein Baum.« Er rückte seine Schildmütze zurecht.
Ich war mir nicht sicher, ob die letzte Bemerkung ein Kompliment war, fühlte mich aber immens erleichtert, dass er nicht glaubte, ich würde Gespenster sehen. »Was ist, wenn ich jemanden schon ein paarmal, wenn ich sie mehr als einmal gesehen habe und sie überhaupt nicht da war?«
Er runzelte die Stirn. »Wie kommst du drauf, dass sie nicht da war? Na, komm, Zeit für die Brownies.«
Wir eilten den Pfad entlang, gefolgt von laut schwirrenden Wander-Gelblingen. Oder etwas in der Art.
Brownies konnten einen schlechten Tag blitzschnell in einen guten verwandeln, als hätte der Tag zwei Türen, und ich ginge durch die schlechte hinein und käme mit einem Brownie in der Hand durch die gute wieder heraus. Was mir an Dr. McComb gefiel: Er bestreute sie mit Puderzucker, der sanft wie Schnee darauf herniederfiel. Das machte meine Mutter auch, auf Kuchen. Für das Muster benutzte sie Papierdeckchen, und so kriegte der Kuchen obendrauf ein Schneeflockenmuster. Es waren wunderschöne Kuchen, mehrere Schichten zarter Biskuit, zusammengehalten von einer Schokoladen- oder Vanillecremefüllung.
Dr. McComb und ich saßen am Küchentisch, aßen Brownies und tranken Kaffee. Mein Kaffee bestand zwar hauptsächlich aus Milch, aber überhaupt einen Kaffee angeboten zu bekommen war eine ganz neue Erfahrung. Von Betsy war gar nichts zu sehen. Ich fragte mich, ob sie jemals Brownies aß.
Wie üblich behielten wir das Brownieblech genau im Auge und »reservierten« sozusagen unser zweites Stück. Fast immer hatten wir dabei dasselbe im Auge, doch waren wir immer so höflich, es nicht zu nehmen. Vielleicht sollte ich besser sagen, Dr. McComb war höflich. Ich als Gast durfte mir natürlich das zweite Brownie aussuchen. Beim dritten ließ ich ihn aber zuerst nehmen.
Gerade waren wir noch bei unserer ersten Runde Brownies. Ich erzählte weiter von dem Mädchen und den Halluzinationen. »Sie sieht übrigens immer gleich aus. Ich meine, sie hat immer dieselben Sachen an.«
Er legte die Stirn in Falten. »Ich trage seit zehn Jahren oder länger ein und dieselben Sachen. Das hat nichts zu bedeuten.«
Fast hätte ich das mit Morris Slade vergessen. Ich war ja nicht hergekommen, um über das Mädchen zu reden – wunderte mich sowieso, dass ich überhaupt über sie geredet hatte. »Erinnern Sie sich noch an die Slades? Insbesondere an Morris Slade?«
»Der die junge Woodruff geheiratet hat – natürlich erinnere ich mich. Das waren doch die Eltern von dem Baby, das aus dem Hotel Belle Ruin entführt wurde. So was vergisst man ja wohl kaum. Die sind zurück nach New York, und seither haben wir sie nicht mehr gesehen. Leuchtet ja ein, dass die das alles hier hinter sich lassen wollten.« Er überlegte. »Was mit dem armen kleinen Ding passiert ist, bleibt bis heute ein großes Rätsel.«
»Morris Slade ist hier in der Stadt. Ich hab ihn im Rainbow Café gesehen.«
Dr. McComb stellte seine Tasse wieder auf den Unterteller. »Na, das sind ja Neuigkeiten. Ich habe Morris seit über zwanzig Jahren nicht mehr gesehen.«
»Kannten Sie ihn denn, als er noch hier lebte? Mein Eindruck ist, die Leute hielten ihn für einen Nichtsnutz. Sie wissen schon, so ein Playboy-Typ.«
Er kicherte leise. So kichern eigentlich kleine Kinder, aber kaum Erwachsene. So ein Kichern kommt von ganz tief drinnen.
»Stimmt auch irgendwie. Morris sah schon als junger Kerl sehr gut aus, sämtliche Mädchen in der Stadt waren hinter ihm her. Als Mann hatte er dann mit mehreren Frauen hintereinander was. Das waren aber nicht alles nur Mädchen aus La Porte, auch Großstädterinnen. Er arbeitete in einer Bank in« – er begutachtete das Blech mit den Brownies – »in Philadelphia war das wohl?« Seine Hand griff nach einem der mittleren Brownies.
Ich hatte so heftig überlegt, dass ich ganz vergessen hatte, mir ein Brownie auszusuchen, nämlich das gleiche wie er. Ich nahm das nächstbeste. »Ich dachte, Playboys haben für Arbeit nicht viel
Weitere Kostenlose Bücher